Inszenierte Kindheit
Datum: Sunday, 15. September
Thema: Praxis Kinder


Die Lebenszeit von Kindern in festen Händen
Für mich enthält diese Überschrift schon den ganzen Text, all das, was ich über die herkömmliche Schule und die "normale" Erziehung denke. Die Inszenierung fängt mit der Namensgebung an und mit der Ausstattung des Kinderzimmers, der Art der Spielzeuge, der Auswahl der für den Umgang geeigneten Kinder.

Die Art der Belohnungen und Strafen. Gibt es feste Tarife, Wertstufen, oder sind immer mal Überraschungen zu erwarten? Besondere Belohnungen oder besondere Ausbrüche bei Bestrafungen. Eine große Rolle spielen natürlich die Lebensumstände von Eltern oder Alleinerziehenden, die wirtschaftliche Lage, die Wohnverhältnisse, die nachbarschaftlichen oder verwandtschaftlichen Beziehungen. Und das, was das Kind in sein Leben mitbringt. Ist es hübsch oder sieht es eher eigenartig aus? Ist es gesund und fröhlich oder ist es anfällig, kränklich, allergisch?
Vielleicht hat es eine unangenehme Stimme, eine quälende Frequenz. Vielleicht macht es beim Essen seltsame Geräusche. Sieht es geliebten oder weniger geliebten Menschen ähnlich?

Vier Kinder
Ich denke mir einmal vier verschiedene Kinder aus, Siegfried Ehrlich, Moritz Schwindler, Caroline Glücklich und Mechthild Eklig.
Siegfried hat große dunkle Augen, Moritz läuft immer die Nase und er zieht sie geräuschvoll hoch, Caroline sieht genauso aus wie ihre bildhübsche Mutter auf Kinderbildern und Mechthild hat eine verhältnismäßig große Nase und neigt zu Hautallergien, die Juckreiz verursachen.
Ich müsste mir jetzt noch die Eltern dieser Kinder ausdenken, ihre Einkommensklassen, ihren Bildungstand und ihre eigenen Erfahrungen mit Erziehung. Ihre eigene Erziehung sollte gelenkt werden durch Belohnung und Strafe oder wenigstens die Androhung von Strafen. Sie fand in Wirklichkeit statt durch Beobachtung von "Vorbildern". Und sie hatte damit zu tun, wie die eigene Entwicklung zu dem Verhalten der "Vorbilder" passte. Siegfried hat es einfacher mit den Abständen. Große dunkle Augen sieht man auch aus einiger Entfernung. Man kann ihn aus dem Abstand ansprechen, den er selber gewählt hat. Caroline wird immer gleich in den Arm genommen. Sie lässt es zu, weil sie gemerkt hat, dass sie ohne weiteres dafür Preise festsetzen kann, und erhöhen. Moritz wird ständig auf seinen Gesundheitszustand kontrolliert, bekommt Medikamente, Behandlungen, Papiertaschentücher und Ermahnungen, sie doch auch zu benützen. Mechthild wird nicht gleich registrieren, dass die Abstände immer ein bisschen größer sind, als sie selber es eigentlich wünschte. Auch durch Versprechungen und Drohungen kann man sie nicht davon abhalten, sich zu kratzen. Sie lässt sich nicht darauf ein. Die vier kommen in den Kindergarten mit Tagesplan, gleichzeitigen Aktivitäten für die ganze Gruppe, gelenkten, beaufsichtigten Spielen: Caroline hat es ganz leicht in der Gruppe, wenn sie keine laute Stimme hat. Siegfried wird von den anderen ernst genommen, wenn er ein bisschen größer ist und zu seinen Augen dunkelblaue weiche Pullis trägt. Moritz wird dauernd aufgefordert, endlich seine Nase zu putzen und erlebt Lacherfolge, wenn es ihm gelb und zähflüssig bis ans Kinn fließt. Entweder provoziert er weitere Beachtung oder er schlägt und tritt gemein um sich. Mechthild zieht sich in die Spielecke zurück, weint in Strömen, wenn sie angefasst wird und wird deshalb dort in Ruhe gelassen.
Nichts geschadet?
Und dann kommen die vier Kinder, die ich mir wirklich nur ausgedacht habe, in die Schule.
Im Bildungsplan von Baden-Württemberg 1984 stand: "Dem Anfangsunterricht kommt eine Schlüsselstellung für das weitere Lernen zu". So als würden die Kinder jetzt anfangen zu lernen. Im gleichen Bildungsplan (und auch im nächsten) wird grundsätzlich festgestellt: "Kinder im Grundschulalter können ihre Leistung noch kaum objektiv einschätzen." Das muss die Schule behaupten, um diesen Kindern das Lernen aus den eigenen Händen nehmen zu können. Es steht nicht dabei, wer denn diese "Leistungen" objektiv einschätzen kann. Aber jeder kann sich schon denken, dass das die ausgebildeten Lehrkräfte, die Nachhilfelehrer, die Kinderpsychologen, die Kinderärzte, die Verwandten (die vielleicht auch Lehrer sind oder sonst irgendwas studiert haben) und natürlich die Eltern sind: Alle waren ja schließlich selber in der Schule gewesen. Es "hat ihnen auch nicht geschadet" und "aus uns ist auch etwas geworden".
Nur die Kinder können ihre Leistung nicht einschätzen. Sie sollen sie vorzeigen und dann bewerten lassen. Sie sollen tun, was man ihnen sagt, Aufträge ausführen, sich so verhalten, wie man es ihnen vorschreibt, Fehler vermeiden und ständig feststellen, wofür man die vorteilhaftesten Belohnungen bekommen könnte. Das ist nicht so einfach, weil Erwachsenen jede Abweichung von ihrem Muster als Fehler diskriminieren. Erwachsene haben die Vorstellung, man könne Kindern sagen, was sie tun sollen und die wüssten es dann. Die Erwachsenen haben die Vorstellung, man könne Kindern aus dem reichen Wissensschatz eine Münze nach der anderen geben und die Kinder hätten dadurch einen langsam aber stetig wachsenden Schatz an Wissen. In kurzen Abschnitten lassen sich Erwachsene dann den Kontoauszug zeigen und stellen zu ihrer Überraschung fest, dass da allerhand versickert sein muss. Abgezweigt, nicht richtig verbucht, verplempert, nicht darauf aufgepasst. Also werden die Belohnungen erhöht, die Strafen verschärft (zweimal wöchentlich Nachhilfe statt spielen; die Klasse muss wiederholt werden und der Klavierunterricht wird gestrichen; die Schulart muss gewechselt werden und die Zukunftsaussichten werden immer düsterer). Und die Klagen über die heutigen Kinder und die schlechter werdenden Lebensumstände werden immer lauter.
Die Erwachsenen wissen, was gut ist
Kinder sollen sich auf die Inszenierung einlassen, die sich gerade so ergeben hat oder die für sie perfekt geplant wurde. Sie sollen in dieser Inszenierung ihre Rolle spielen, die ihnen zugewiesen wurde, die für sie nach ihrem Aussehen und Verhalten, nach den Ansprüchen von Eltern, Verwandten, "Vorbildern" ausgesucht wurde. Schule soll Kinder qualifizieren, etwas aus ihnen machen, ihre Qualität erhöhen. Erziehung will aus Kindern erzogene Kinder machen. Das soll ihnen das Leben erleichtern. Die Erwachsenen wissen, was gut für die Kinder ist. Für die Stadt Freiburg wurde ein Kinderbericht erstellt, in dem für die einzelnen Wohngebiete erfasst wurde, wie viel Zeit oder Gelegenheit Kinder eigentlich haben, irgendwo ungeplant, unbeaufsichtigt, selbstständig, mit anderen Kindern zu spielen. In manchen Wohngebieten gibt es das überhaupt nicht, in den "guten" Gegenden haben Kinder im Durchschnitt fünfzehn Minuten täglich, in "schlechten" bis zu eineinhalb Stunden. Erfasst wurden die Bedingungen für Kinder von fünf bis zehn Jahren. Die ganze übrige Lebenszeit von Kindern ist in festen Händen. Wenn das wirklich gut wäre für die Menschen, dann gäbe es nicht so viel Schulversagen, Verhaltensstörungen, psychische Erkrankungen und Störungen, Beziehungslosigkeit, Abstandslosigkeit, Drogenabhängigkeit aller Art, Kriminalität.
Und die Alternative? "Erziehung" und Lernen ohne Belohnung und Strafe. Kinder sehen Bilder und machen sich ihre eigenen. Sie nehmen nicht die Münzen aus dem Wissensschatz der Erwachsenen, sondern prägen sich die eigenen. Wenn man sie durch einen Lehrgang schicken will mit korrekter Zeitplanung, Streckenkontrollen und Belohnung zum Abschluss, schauen sie vielleicht diesen Lehrgang von außen an, suchen Abkürzungen oder Umwege, schauen, was es denn sonst noch gäbe. Kinder können wirklich einschätzen, was sie tun. Sie tun es ja selber und für sich. Sie können einschätzen, wann sie müde, fröhlich, traurig, neugierig, gerührt, aufgeregt sind. Kinder können sich ihre Rolle in der Inszenierung selber aussuchen. Wer ihnen das übel nimmt, hat sie nicht verstanden oder gewaltig unterschätzt.

Rolf Robischon

Der Text steht im Buch "Lernen ist wie Netze spinnen", AOL-Verlag September 2002






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