Über die Beschaffenheit des neurobiologischen Substrats auf dem Bildung gedeihen
Datum: Tuesday, 08. October
Thema: Wissenschaft Säuglinge


Über die Beschaffenheit des neurobiologischen Substrats auf dem Bildung gedeihen kann

Gerald Hüther, Psychiatrische Klinik, Universität Göttingen

Keine andere Spezies kommt mit einem derartig offenen, lernfähigen und durch eigene Erfahrungen in seiner weiteren Entwicklung und strukturellen Ausreifung formbaren Gehirn zur Welt wie der Mensch.

Über die Beschaffenheit des neurobiologischen Substrats auf dem Bildung gedeihen kann



Gerald Hüther, Psychiatrische Klinik, Universität Göttingen



Keine andere Spezies kommt mit einem derartig offenen, lernfähigen und durch eigene Erfahrungen in seiner weiteren Entwicklung und strukturellen Ausreifung formbaren Gehirn zur Welt wie der Mensch. Nirgendwo im Tierreich sind die Nachkommen beim Erlernen dessen, was für ihr Überleben wichtig ist so sehr und über einen derartig langen Zeitraum auf Fürsorge und Schutz, Unterstützung und Lenkung durch die Erwachsenen angewiesen, und bei keiner anderen Art ist die Hirnentwicklung in solch hohem Ausmaß von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz dieser erwachsenen Bezugspersonen abhängig wie beim Menschen. Da diese Fähigkeiten bei den für die Gestaltung der Entwicklungsbedingungen eines Kindes maßgeblichen Erwachsenen unterschiedlich gut entwickelt sind, können die genetischen Potenzen zur Herausformung hochkomplexer, vielseitig vernetzter Verschaltungen im Gehirn der betreffenden Kinder nicht immer in vollem Umfang entfaltet werden. Die Auswirkungen derartiger suboptimaler Entwicklungsbedingungen werden allerdings meist erst dann sichtbar, wenn die heranwachsenden Kinder Gelegenheit bekommen, ihre emotionale, soziale und intellektuelle Kompetenz unter Beweis zu stellen, z.B. in der Schule. Sogar bei Ratten ist die transgenerationale Weitergabe von Defiziten der Erziehungskompetenz inzwischen empirisch nachgewiesen worden (Francis und Meaney 1999).
Beim Versuch, diese recht eindeutigen tierexperimentellen Befunde auf den Menschen zu übertragen, stößt man gegenwärtig jedoch noch immer auf erhebliche Akzeptanzprobleme. Diese Ablehnung macht deutlich, wie sehr die tatsächliche Tragweite der sich aus derartigen Erkenntnissen ergebenden Folgerungen erahnt wird und erklärt zugleich den Umstand, dass sich in der Vergangenheit deterministische Vorstellungen einer primär durch genetische Programme gesteuerten Hirnentwicklung wesentlich erfolgreicher verbreiten und im Bewußtsein ganzer Bevölkerungsschichten verankern ließen und zwangsläufig auch zu tragenden Säulen medizinischer, biologischer, psychologischer und sogar soziologischer Theoriegebäude geworden sind (Rutter 2002).


Auch im Bereich der Erziehungswissenschaften wird nach wie vor von einem erheblichen Einfluß genetisch bedingter „Begabungen“ und „Minderbegabungen“ auf schulische Leistungen ausgegangen. Seinen deutlichen Ausdruck findet diese auch in der Bevölkerung weit verbreitete Auffassung in den Bemühungen um eine frühe Differenzierung der Schüler in weiterführende Schulen mit unterschiedlichen Bildungsangeboten. Für die Schüler bedeutet das, dass anfangs, während der Grundschulzeit, bestehende Entwicklungsunterschiede (auch dann, wenn sie keinerlei genetische Ursache haben) zwangsläufig nur noch verstärkt werden. Für die Bildungseinrichtungen bedeutet das, dass sie gezwungen sind, die verschiedenen Schulformen, ihre Lehrinhalte und Lehrmethoden auf die jeweils „mitgebrachten“ Fähigkeiten ihrer Schüler abzustimmen.

Zwangsläufig geraten sie so zunehmend in die Rolle eines Dienstleistungsbetriebes, der bestimmte wissenschaftlich fundierte didaktische und methodische Verfahren einzusetzen und objektiv messbare und kontrollierbare Leistungen zu erbringen hat.

Das wiederum bedeutet für die Eltern, dass sie immer dann, wenn das Produkt dieser Dienstleistung nicht ihren Erwartungen entspricht, von ihrem „Reklamationsrecht“ Gebrauch machen und die Schule zur Verbesserung ihrer didaktischen und methodischen Verfahren zwingen können.


Was auf diesem Boden optimal gedeihen kann, sind Versorgungsbetriebe für immer neue und immer bessere Unterrichtsmaterialien, sind Verwaltungsbehörden zur Beaufsichtigung und Überwachung der schulischen Dienstleistungsbetriebe, sind Juristen zur Durchsetzung elterlicher Ansprüche gegenüber Schulen und Lehrern und sind nicht zuletzt auch Bildungspolitiker, die alle vier Jahre eine Schulreform beschließen.

Was auf diesem Boden jedoch kaum wachsen kann, sind enge menschliche Beziehungen. Ohne solche Bindungen kann nicht gelingen, was Bildung erreichen will: Die Weitergabe des bisher gesammelten Wissens, der bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Generation - durch dafür besonders ausgebildete und an dieser Aufgabe besonders interessierte Erwachsene – an die jeweils nachfolgende Generation. Wenn Bildung nicht mehr in dieser Weise auf breiter Front gelingt, so geht der jeweils nachwachsenden Generation auch die Fähigkeit verloren, über ihre „mitgebrachten“ Begrenzungen hinauszuwachsen. Sie bleiben gefangen in den Beschränktheiten der von vorausgegangenen Generationen geschaffenen Verhältnisse und in den Begrenzungen der transgenerational überlieferten Anlagen und Entwicklungsbedingungen.


1.Die Hirnentwicklung als ein sich selbst organisierender, durch Interaktionen mit der Außenwelt gelenkter Prozess


Die Entwicklung des kindlichen Gehirns folgt einem grundsätzlichen Entwicklungsprinzip aller lebenden Systeme: Neue Interaktionen (hier: neuronale Verbindungen und synaptische Verschaltungen) können nur im Rahmen und auf der Grundlage bereits etablierter Interaktionsmuster ausgebildet und stabilisiert werden. Dabei müssen sie den bereits entwickelten Interaktionsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Subsystemen folgen. Wie alle lebenden Systeme entwickelt sich auch das Gehirn nur dann, wenn neuartige Bedingungen auftreten, die die Stabilität der bereits etablierten Interaktionen in Frage stellen. Solche Bedingungen werden mit erstaunlicher Präzision von dem sich entwickelnden System selbst verursacht (im sich entwickelnden Gehirn etwa durch Proliferation von neuralen Zellen, Auswachsen von Fortsätzen, Sekretion von wachstumshemmenden und stimulierenden Faktoren etc.). Solange das der Fall ist, verläuft die (Hirn)Entwicklung weitgehend autonom, selbstorganisiert und eigendynamisch innerhalb der jeweils herrschenden äußeren (intrauterinen) Bedingungen. Wenn Proliferation und Wachstum zu erlöschen beginnen, verliert das sich entwickelnde Gehirn eine wesentliche Triebfeder seiner Eigendynamik. In dem Maße, wie das sich entwickelnde Gehirn zunehmend Verbindungen zur Außenwelt erlangt, werden die bereits etablierten und noch zu bildenden Verschaltungen und Erregungsmuster über die entsprechenden sensorischen Eingänge zunehmend von außen beeinflußbar. Mehr noch, da nun die durch sensorische Eingänge getriggerten Erregungsmuster dazu führen, daß bestimmte neuronale Verschaltungsmuster stabilisiert werden können, hängt die Stabilität dieser Verschaltungen von den jeweiligen sie stabilisierenden Eingängen und Erregungsmustern ab. Von diesem Zeitpunkt an verläuft die Hirnentwicklung nicht mehr autonom gegenüber sensorischen Inputs, sondern sie wird durch die sensorischen Eingänge aus der Außenwelt bestimmt und bleibt von ihnen abhängig.


1.1. Die nutzungsabhängige Stabilisierung synaptischer Angebote


Keine der Milliarden Nervenzellen „weiß“, wann sie aufhören muß, sich zu teilen, wohin sie anschließend zu migrieren und ihre Fortsätze auszuwachsen hat, mit welchen anderen Nervenzellen sie Verbindung aufnehmen und Synapsen ausbilden soll. Ihr genetisches Programm versetzt sie lediglich in die Lage, sich zu teilen, solange die äußeren Bedingungen (das lokale Mikroenvironment) dafür günstig sind, entlang bestimmter Signalstoffgradienten zu wandern und Fortsätze auszuwachsen, dendritische (postsynaptische) Angebote zu machen und axonale Präsynapsen auszubilden. Es handelt sich also um ein Programm von Optionen, das lediglich festlegt, was unter gewissen Bedingungen möglich ist, und was zu geschehen hat, wenn sich diese Gegebenheiten ändern, entweder als zwangsläufige Folge der eigenen Wachstumsdynamik (Gradienten von Nährstoffen, Metaboliten, Signalstoffen, Adhäsionsmolekülen etc.) oder durch äußere Faktoren (sensorische Eingänge, äußere Störungen des inneren Bedingungsgefüges). Jede Veränderung der äußeren Welt, die stark genug ist, um das in der „Innenwelt“ des sich entwickelnden Gehirn herrschende Bedingungsgefüge zu verschieben, kann daher die dort ablaufenden Wachstums- und Differenzierungsprozesse in eine bestimmte (ohne diese Störung nicht oder noch nicht eingeschlagene) Richtung lenken.


Weil das sich entwickelnde Gehirn nicht „weiß“, welche Nervenzellverschaltungen und synaptischen Verbindungen in welcher Weise herauszuformen und miteinander zu verknüpfen sind, wird in allen Regionen zunächst ein enormer Überschuß an Nervenzellen, Fortsätzen und Synapsen produziert. Erhalten bleiben im weiteren Verlauf des Reifungsprozesses davon jedoch nur diejenigen Nervenzellen, Fortsätzen und Synapsen, die funktionell genutzt, d.h. in größere funktionelle Netzwerke integriert und auf diese Weise stabilisiert werden können (Singer 1995). Der Rest wird wieder abgebaut (nutzungsabhängige Strukturierung). Dieser Prozess verläuft in einer charakteristischen zeitlichen Abfolge, wie die Schließung des Neuralrohres, von kaudal beginnend (Rückenmark) über Stammhirn, Mittelhirn (Thalamus, Hypothalamus, limbisches System) zum Vorderhirn. In den älteren Bereichen ist diese die nutzungsabhängige Strukturierung zum Zeitpunkt der Geburt weitgehend abgeschlossen, in jüngeren Bereichen sind die wichtigsten Neuronenverbände und Verschaltungsmuster ebenfalls bereits herausgeformt. Die Nervenzellproliferation ist (bis auf eine kleines Areal im Gyrus dentatus des Hippocampus) beendet, die entsprechenden Kerngebiete bzw. Zellschichten sind angelegt. In den jüngeren Regionen werden noch lange nach der Geburt intensiv Gliazellen produziert und Myelinscheiden geformt. Vor allem im Cortex ist das Auswachsen von Dendriten und Axonen und die Synapsenbildung noch in vollem Gange. In der jüngsten Hirnregion, dem frontalen Cortex, wird das Maximum der synaptischen Dichte erst im 2. Lebensjahr erreicht. Wird der sukzessive Ablauf dieser Reifungsprozesse an irgendeiner Stelle gestört, wirkt sich diese Störung auch auf alle nachfolgenden Reifungsschritte in all jenen Regionen aus, die funktionell von dieser Störung affiziert sind.


1.2. Die erfahrungsabhängige Modifikation und Reorganisation synaptischer Verschaltungsmuster


In den jüngeren Bereichen des Gehirns wird der Prozess der nutzungsabhängigen Strukturierung (Bildung und Elimination überschüssiger synaptischer Verschaltungen) zunehmend durch die individuell vorgefundenen äußeren Nutzungsbedingungen (familiäres und soziales Umfeld, Anregungen, Forderungen, Erziehung und Sozialisation) und den unter diesen Bedingungen jetzt gemachten oder von nahestehenden Bezugspersonen übernommenen Erfahrungen bestimmt. Die strukturelle Verankerung von Erfahrungen ist eng an die Aktivierung emotionaler, limbischer Hirnregionen geknüpft. Zu einer Aktivierung dieser Bereiche kommt es immer dann, wenn etwas Neues, Unerwartetes wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmung kann entweder als Bedrohung (Angst) oder als Belohnung (Freude) empfunden werden. Die damit einhergehende Aktivierung limbischer Zentren führt zu einer vermehrten Ausschüttung einer ganzen Reihe von Signalstoffen mit trophischen, neuroplastischen Wirkungen (Transmitter, Mediatoren, Hormone) in den höheren assoziativen kortikalen Regionen. Unter dem Einfluß dieser, die Bildung und Bahnung synaptischer Verschaltungen stimulierenden Signalstoffe (z.B. Katecholamine, Neuropeptide) kommt es zur Festigung und Stabilisierung insbesondere all jener Nervenzellverschaltungen, die im Verlauf der emotionalen Aktivierung besonders intensiv genutzt werden (strukturelle Verankerung positiver/negativer Erfahrungen, „emotionales Gedächtnis“ für erfolgreiche/erfolglose Bewältigungsstrategien, vgl. Hüther 1996). Offenbar gibt es einen Grad „optimaler“ Stimulation emotionaler Zentren, der die Herausbildung und Stabilisierung hochkomplexer Verschaltungsmuster im Cortex (und dort in der am stärksten vernetzten und durch eigene Erfahrungen formbarsten Region dem präfrontalen und orbifrontalen Cortex der rechten Hemisphäre) fördert. Steigt das Ausmaß an emotionaler Aktivierung weiter an (Angst, Stress), so kommt es zu einer eskalierenden, unspezifischen Erregung in den höheren, assoziativen Bereichen (Verwirrung, Ratlosigkeit). Gebahnt und stabilisiert werden unter diesen Bedingungen die zur Bewältigung dann aktivierten, weniger komplexen, älteren, bereits „bewährten“ Verschaltungen. Wird die Aktivierung der emotionalen Zentren überstark und läßt sie sich nicht durch den Rückgriff auf eine geeignete Bewältigungsstrategie abstellen (langanhaltende, unkontrollierbare Angst- und Stressreaktion), so reagiert das Gehirn mit der Aktivierung einer archaischen, sehr früh angelegten und von tieferliegenden subcorticalen Bereichen gesteuerten „Notfallreaktion“ (Erstarrung, Hilflosigkeit). Gleichzeitig kommt es zu einer ausgeprägten, langanhaltenden Stimulation der (für die körperliche Bewältigung derartiger Notfälle zuständigen) HPA-Achse. Die damit einhergehende Überflutung des Hirns mit Cortisol begünstigt die Destabilisierung und Regression bereits entstandener und gebahnter neuronaler Verschaltungen in all jenen Bereiche des Gehirns, die eine besonders hohe Dichte an Cortisolrezeptoren aufweisen (Hippocampus, limbischer und präfrontaler Cortex) und die gleichzeitig durch massive exzitatorische Eingänge (Glutamat) überstark erregt werden (Sapolski 1996).


1.3. Die Bedeutung psychosozialer Entwicklungsbedingungen für die Strukturierung des kindlichen Gehirns


Die notwendige Offenheit des sich entwickelnden Gehirns für strukturierende Einflüsse aus der äußeren Welt hat zwangsläufig zur Folge, dass es auch Einflüssen ausgesetzt werden kann, die die Integrität seiner inneren Struktur und Organisation bedrohen. Die genetischen Programme, die die Ausformung eines derartig offenen und daher enorm störbaren Hirns ermöglichen, konnten nur unter der Voraussetzung entstehen und im Genpool des Menschen verankert werden, dass derartige Störungen so gut wie nie vorkamen. Hand in Hand mit der Öffnung der anfangs noch recht starren genetischen Programmierung der Hirnentwicklung mußten im Lauf der Evolution also immer effizientere Mechanismen zum Schutz des sich entwickelnden Hirns vor äußeren Störungen entwickelt werden. Neben den bereits bei den Säugetieren „erfundenen“ Schutz der Nachkommen durch Verlagerung der störanfälligsten Entwicklungsschritte in den Mutterleib, wurden bei den Primaten und insbesondere beim Menschen Sicherheit-bietende Bindungen zur entscheidenden Voraussetzung für die Ausbildung lernfähiger, plastischer Gehirne (Hüther 2000). Nichts erzeugt soviel unspezifische Erregung im Hirn (und vor allem in den emotionalen Zentren) eines Kleinkindes, wie das plötzliche Verschwinden der Mutter. Offenbar ist der Verlust der bis dahin vorhandenen, Sicherheit-bietenden Bezugsperson die bedrohlichste und massivste Störung, die das sich entwickelnde Gehirn treffen kann (Gunnar 1998).


Wie in Tierversuchen („maternal deprivation“) unnötig oft repliziert, gilt das bereits für Ratten und in noch stärkerem Ausmaß und mit noch nachhaltigeren Folgen für die weitere Hirnentwicklung von Primaten. Das Gehirn dieser bedauernswerten Versuchstiere entwickelt sich unter diesen Bedingungen nur zu einer notgereiften Kümmerversion dessen, was daraus hätte werden können (Übersicht in: Hüther 1998). Auch alle weiteren Erkenntnisse, die mit Hilfe derartiger „Tiermodelle“ bisher zutage gefördert wurden, wären allein durch bloßes Nachdenken ebenso sicher vorhersehbar gewesen:


- Je früher die Trennung erfolgt, desto globaler ist die Retardierung des Gehirns auch noch im erwachsenen Zustand ausgeprägt.

- Am stärksten wird diejenige Hirnregion betroffen, sie sich zum Zeitpunkt des Verlustes der Mutter in einer sog. „growth spurt“ Phase befindet, in der also besonders komplexe Wachstums- und Differenzierungsprozesse besonders rasch ablaufen.

- Immer wird nachfolgend auch die Entwicklung derjenigen Strukturen und Subsysteme beeinträchtigt, die sehr spät reifen und deren Komplexitätsgrad vom jeweils erreichten Komplexitätsgrad der bereits entstandenen, älteren Strukturen und Subsysteme abhängig ist (frontaler Cortex, monoaminerge Systeme).

- Manches läßt sich nach einer solchen Störung später noch aufheben und kompensieren, anderes nicht.


Die menschliche Entsprechung dieser „maternal deprivation“ ist die frühkindliche Bindungsstörung.


Zusammenfassend läßt sich also festhalten: Kinder kommen bereits mit sehr unterschiedlichen Anlagen und Prädispositionen zur Welt. Diese Unterschiede beruhen nur zum Teil auf Unterschieden der genetisch festgeschriebenen Optionen und Potenzen, da diese in Abhängigkeit von den individuell vorgefunden Bedingungen exprimiert werden. Wie groß diese von außen getriggerten Unterschiede bereits im Verlauf der pränatalen Phase der Hirnentwicklung sein können, wie unterschiedlich diese frühe Entwicklungsphase selbst bei eineiigen Zwillingen verlaufen kann und welche Folgen diese frühen Unterschiede für die weitere Entwicklung haben können, ist von René Spitz sehr eindringlich am Beispiel der Zwillingsschwestern Cathy und Rosy beschrieben worden (Spitz 2000). Alle weiteren, nach der Geburt normalerweise stattfindenden Strukturierungs- und Reifungsprozesse sind das Ergebnis der Interaktion zwischen den bis dahin bereits etablierten und stabilisierten Verschaltungen (Grundlage der bereits vorhandenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und affektiven Reaktionsmuster) sowie den noch vorhandenen Optionen (noch mögliche Entwicklungsrichtungen und – geschwindigkeiten) einerseits und den in der äußeren Welt vorgefundenen Nutzungsbedingungen (Anforderungen, Anregungen) andererseits. Diskrepanzen zwischen diesen (inneren) Voraussetzungen und den (äußeren) Erfordernissen führen zur Aktivierung emotionaler Zentren (stress-sensitiver Systeme). Die dabei vermehrt ausgeschütteten neurotrophen Signalstoffe wirken als Trigger für die adaptive Modifikation und Reorganisation der bis dahin bereits etablierten Verschaltungsmuster und ermöglichen so eine Anpassung der inneren Struktur und Organisation des sich entwickelnden Gehirns an die aus Wahrnehmungen aus der Außenwelt abgeleiteten Erfordernisse (Hüther 1998).

Das heißt:


- Ohne Aktivierung dieser emotionalen Zentren können keine neuen Erfahrungen gemacht und hinreichend fest verankert werden.

- Optimale Bedingungen für die Etablierung und Stabilisierung neuer, komplexerer assoziativer Verschaltungsmuster herrschen immer dann, wenn es zu einer moderaten Aktivierung emotionaler Zentren kommt („Neugier“, „Spiel“).

- Die stärkere Aktivierung dieser Zentren führt zur präferentiellen Bahnung und Stabilisierung bereits vorhandener, „bewährter“ assoziierter Verschaltungen.

- Bei überstarker und langanhaltender Aktivierung wächst die Gefahr einer fortschreitenden Destabilisierung und Regression bereits etablierter (aber zur Lösung des Problems ungeeigneter) Verschaltungen.

- Die wichtigste Ressource zur Bewältigung von Angst und Stress sind Sicherheit- und Orientierung-bietende Bindungen.


2. Die Bedeutung Sicherheit-bietender Bindungen für die Hirnentwicklung


Wenn Kinder zur Welt kommen, sind sie auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Sie brauchen nicht nur jemanden, der sie wärmt, nährt, sauber hält und sich mit ihnen beschäftigt. Noch wichtiger ist es, dass immer dann, wenn sie Angst haben, jemand da ist, der ihnen beisteht und ihnen zeigt, daß es möglich ist - und später auch, wie es möglich ist - , diese Angst zu überwinden. Wenn ein Kind das Glück hat, jemanden zu finden, der ihm in solchen Situationen regelmäßig hilft und ihm Geborgenheit und Sicherheit bietet, werden alle dabei aktivierten Verschaltungen in seinem Gehirn gebahnt. Auf diese Weise entsteht eine enge Bindung an die primäre Bezugsperson.

Viele Mütter wissen das und festigen diese Bindung spielerisch, beispielsweise indem sie sich immer wieder kurzzeitig verstecken, um anschließend, genau dann, wenn das Kind Angst bekommt und nach seiner Mutter sucht, wieder aufzutauchen. Wenn Kindern das Gefühl vermittelt wird, daß sie in der Lage sind, die verschwundene Mutter durch eine eigene Reaktion wieder herbeizuholen, wächst ihr Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit, bedrohliche Situationen meistern zu können. Auch die dabei aktivierten Verschaltungen werden gebahnt. So entsteht Selbstvertrauen, Vertrauen in die eigene Kompetenz bei der Bewältigung von Problemen. Im Verlauf der weiteren Entwicklung erweitert sich der Kreis sicherheitsbietender Bezugspersonen, und das Kind eignet sich sämtliche Kompetenzen, Grundhaltungen und Verhaltensweisen an, die diese Personen haben und die das Kind für die Aufrechterhaltung seiner inneren Ordnung, für die Bewältigung von Angst und Streß als wichtig bewertet. Je mehr es sein Wissen, seine Fähigkeiten und seine Kompetenzen erweitert und eigene Erfahrungen macht, verlieren die frühen Bindungen ihre ursprüngliche sicherheitsbietende Bedeutung. Dramatisch verschärft wird diese Entwicklung während der Pubertät, wenn die dabei einsetzende Produktion von Sexualhormonen zu tiefgreifenden Veränderungen des eigenen Körpers wie auch des bisherigen Denkens, Fühlens und Verhaltens führen. Am Ende dieses Entwicklungsweges ist aus dem anfänglich noch völlig abhängigen Baby ein selbstbestimmender, in ein komplexes Netz sozialer Beziehungen eingebundener Mensch geworden.
Leider klappt das nicht immer. Es gibt nicht wenige erwachsene Menschen, denen es nicht gelungen ist oder die nicht genügend Gelegenheit hatten, sich während ihrer Kindheit und Adoleszenz hinreichend viele eigene Kompetenzen anzueignen, vielfältige eigene Erfahrungen zu machen und das für eine autonome Entwicklung erforderliche Selbstvertrauen auszubilden. Sie bleiben entweder in einer abhängigen Beziehung zu ihren primären Bezugspersonen oder suchen sich Partner, mit denen sie diese abhängige Beziehung weiterführen können. Bekommen sie Kinder, so entwickeln sie auch zu diesen eine abhängige und abhängig-machende „Klammerbeziehung”.
Die wichtigste Ursache für die Entstehung früher Bindungsstörungen ist ein Mangel an emotionaler Zuwendung. Es gibt viele Eltern, die noch sehr stark mit sich selbst beschäftigt sind, denen ihre berufliche Karriere ungeheuer wichtig ist, die sich selbst verwirklichen, viel erleben und das Leben genießen wollen. Sie kümmern sich intensiv um ihr Aussehen, ihre Hobbys, ihre Wohnungseinrichtung und um die Anschaffung und Zurschaustellung unterschiedlicher Statussymbole. Kinder sind solch selbstbezogenen Eltern bei der Verwirklichung ihrer individuellen Ziele eher hinderlich, und sie werden ihnen mit ihrem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Zuwendung allzuleicht lästig. Meist tun diese Eltern ihre Pflicht, jedenfalls das, was sie für ihre Pflicht halten, und das bisweilen sogar besonders gut. Sie sorgen für eine besonders ausgewogene Ernährung, für Sauberkeit und hygienische Verhältnisse, ansprechende, modische Kleidung und beschaffen ihnen alle möglichen Gerätschaften, von denen sie glauben, sie seien wichtig für ihr Kind. Sie beruhigen ihr (schlechtes) Gewissen, indem sie das Kind nach Kräften verwöhnen. Was ihr Kind aber wirklich braucht, nämlich daß sie ganz und gar da sind, daß sie sich ihm voll und ganz, also emotional, geistig und körperlich zuwenden, wenn es verunsichert ist und Angst hat, das schenken diese Eltern ihren Kinder nicht oder zumindest nicht dann, wenn diese es besonders dringend brauchen. Deshalb sind solche Kinder oft bereits sehr früh gezwungen, sich auf sich selbst zu verlassen.

Bei ihnen ist die emotionale Bindung an primäre Bezugspersonen nur unzureichend entwickelt. Sie sind gezwungen, den daraus resultierenden Mangel an emotionaler Sicherheit durch verstärkte Selbstbezogenheit zu kompensieren. So schaffen sie sich eine eigene, von ihnen selbst bestimmte Lebenswelt und schirmen sich gegenüber fremden Einflüssen und Anregungen ab, die nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmen. In dieser nur von ihnen selbst bestimmten Welt gibt es keine wirklichen Herausforderungen mehr. Es können keine vielfältigen neuen Erfahrungen gemacht und im sich entwickelnden Gehirn verankert werden. Wichtige Entwicklungsprozesse im kindlichen Gehirn finden nicht mehr oder nur eingeschränkt statt. Für das Lernverhalten der Kinder bedeutet dies ein Rückgang an Motivation, Verstehen, Behalten, Erinnern, Erkennen von Zusammenhängen und eine eingeschränkte Fähigkeit beim Erkennen und Lösen von Konflikten. Ihr Sozialverhalten wird von zunehmendem Rückzug in selbstgeschaffene Welten, Ablehnung fremder Vorstellungen und aggressiver Verteidigung ihrer eigenen Ansichten und Haltungen bestimmt.

Meist handelt es sich hierbei um sehr rigide, einseitige, pseudoautonome Strategien der Angstbewältigung. Die dabei aktivierten neuronalen Verschaltungen werden um so nachhaltiger gebahnt, je früher und je häufiger sie eingesetzt werden. Sie können schließlich das gesamte Fühlen, Denken und Handeln dieser Kinder bestimmen. Die betreffenden Kinder grenzen sich zunehmend von den Vorstellungen anderer, vor allem denen Erwachsener ab. Ihr mangelndes Einfühlungsvermögen behindert sie beim Erwerb vielfältiger sozialer Kompetenzen. Damit fehlt ihnen die Grundvoraussetzung dafür, gemeinsam mit möglichst vielen, unterschiedlichen Menschen nach tragfähigen Lösungen suchen und Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können.

Die Auswirkungen früher Bindungsstörungen auf die Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit sind im späteren Leben nur schwer korrigierbar. Kinder, die keine sicheren Bindungen ausbilden konnten, haben Angst vor körperlicher und emotionaler Nähe. Wenn es ihnen nicht gelingt, diese Angst zu überwinden, bleiben sie zeitlebens isoliert, ich-bezogen und bindungsunfähig. Manche haben Glück und finden einen Lehrer oder Erzieher, der sie versteht und ihnen hilft, allmählich wieder Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, das Vertrauen in menschliche Bindungen wiederzuerlangen und sich auf die gemeinsame Suche nach gemeinsamen Lösungen einzulassen. Manche scheitern irgendwann an den selbstzerstörerischen Folgen ihrer pseudoautonomen Bewältigungsstrategien (Butzmann 2002).


3. Die Bedeutung Sicherheit-bietender Orientierungen für die Hirnentwicklung


Die frühkindlichen Bindungen sind nur der erste Schritt eines langen und komplizierten Sozialisationsprozesses. Im Verlauf dieses Prozesses lernt jedes Kind, sein Gehirn auf eine bestimmte Weise zu benutzen, indem es dazu angehalten, ermutigt oder auch gezwungen wird, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten stärker zu entwickeln als andere, auf bestimmte Dinge stärker zu achten als auf andere, bestimmte Gefühle eher zuzulassen als andere, also sein Gehirn allmählich so zu benutzen, daß es sich damit in der Gemeinschaft, in die es hineinwächst, zurechtfindet.


Die Hirnregion, in der die dafür zuständigen komplexen, nutzungsabhängigen neuronalen Verschaltungen letztendlich herausgeformt werden, ist eine Region, die sich beim Menschen zuletzt und am langsamsten entwickelt, und die auch bei unseren nächsten tierischen Verwandten weitaus kümmerlicher ausgebildet ist. Anatomisch heißt sie Frontal- oder Stirnlappen. Es ist diejenige Hirnregion, die in besonderer Weise daran beteiligt ist, aus anderen Bereichen des Gehirns eintreffende Erregungsmuster zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, und auf diese Weise von „unten“, aus tieferliegenden und früher ausgereiften Hirnregionen eintreffende Erregungen und Impulse zu hemmen und zu steuern. Ohne Frontalhirn kann man keine zukunftsorientierten Handlungskonzepte und inneren Orientierungen entwickeln, kann man nichts planen, kann man die Folgen von Handlungen nicht abschätzen, kann man sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle teilen, auch kein Verantwortungsgefühl empfinden. Unser Frontalhirn ist die Hirnregion, in der wir uns am deutlichsten von allen Tieren unterscheiden. Und es ist die Hirnregion, die in besonderer Weise durch den Prozeß strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen.
Wie wenig wir über die Bedeutung nutzungsabhängiger Plastizität für die Hirnentwicklung wissen, wie rasch und wie unerwartet alte, bislang für richtig gehaltene Theorien ins Wanken geraten sind, machen neuere Untersuchungen über die mit bildgebenden Verfahren nachweisbaren entwicklungsabhängigen strukturellen Veränderungen des menschlichen Gehirns deutlich. Bei Kindern von drei bis sechs Jahren kommt es insbesondere in den frontokortikalen Hirnbereichen, die die Planung und Organisation von Handlungen sowie die Konzentrationsfähigkeit auf bestimmte Aufgaben steuern zu einer deutlichen Volumenzunahme. Bei Jugendlichen von sechs bis zwölf Jahren läßt sich insbesondere eine verstärkte Ausformung und Vergrößerung in solchen kortikalen Regionen nachweisen, die eine besondere Bedeutung für räumliches Vorstellungsvermögen, und abstraktes Denken besitzen. Kurz vor der Pubertät kommt es dann zu einer zweiten Phase des weiteren Ausbaus neuronaler Verschaltungen im frontalen Kortex, der erneut mit einer meßbaren Volumenzunahme einhergeht. Eine weitere Umstrukturierungsphase beginnt nach der Pubertät. Was während dieser Phase geschieht, wird wesentlich von der Regel „use it, or lose it“ bestimmt (Gidd et al. 1999; Sowell, et al. 1999 a, b).

Das alles heißt, daß nicht nur die frühe Kindheit, sondern die gesamte Jugendphase eine entscheidende Entwicklungsperiode darstellt, in der das Gehirn durch die Art seiner Nutzung gewissermaßen „programmiert“ wird. Das Ausmaß und die Art der Vernetzung neuronaler Verschaltungen, insbesondere im frontalen Kortex, hängt also ganz entscheidend davon ab, womit sich Kinder und Jugendliche besonders intensiv beschäftigen, zu welcher Art der Benutzung ihres Gehirns sie im Verlauf des Erziehungs- und Sozialisationsprozesses angeregt werden. Konsequenterweise muß dann zumindest dieser Bereich des menschlichen Gehirns als soziales Produkt angesehen werden (vgl. Eisenberg, 1995).


Diese hochkomplexen Verschaltungsmuster innerhalb des Frontalhirns, wie auch zwischen dem Frontalhirn und den anderen Bereichen der Hirnrinde und den tieferliegenden, sog. subkortikalen Netzwerken können nur dann ausgebildet werden, wenn Kindern bereits im Säuglingsalter vielfältige Gelegenheiten geboten bekommen, sich selbst und ihre Wirkungen auf andere Menschen wahrzunehmen. Wenn die Eltern alle Probleme beiseite räumen, hindern sie ihre Kinder daran, die Erfahrung machen zu können, daß es möglich ist, Probleme mit Hilfe anderer (der Eltern) zu lösen. Kinder, denen diese wichtige Erfahrung vorenthalten wird, richten sich nur nach ihren eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen. Sie bleiben selbstbezogen, trotzig, tyrannisch. Zur Bewältigung der altersentsprechenden Aufgaben fehlen ihnen wichtige Ichfunktionen wie Interesse und Aufmerksamkeit an der Lösung solcher Aufgaben. Ihr Selbstbewußtsein ist nur schwach ausgeprägt, ihr Ich ist zu dünnhäutig, überempfindsam und zu reizoffen. Oft fühlen sich diese Kinder überfordert, wenn sie in Kindergarten und Schule gezwungen sind, auf eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln. Obwohl das Verhalten dieser Kinder äußerlich entwicklungsgerecht erscheinen mag, sind sie oft in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung auf der Stufe eines Kleinkindes stehengeblieben.

In fataler Weise unterstützt wird diese Entwicklung durch alles, was Kinder daran hindert, mit anderen Menschen in eine aktive Interaktion zu treten, ihre bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erproben und weiterzuentwickeln. So geht es beispielsweise Kindern, die täglich viele Stunden vor einem Fernsehgerät zubringen. Zur Passivität verurteilt werden sie mit bunten Bildern, Handlungsfetzen, Aktionsbruchstücken und ständig neuen, emotional erregenden Eindrücken und angstauslösenden Vorstellungen in Erregung versetzt. Auf ihre Fragen bekommen sie keine Antworten, ihre Vorschläge hört niemand, sie können nichts ändern, nichts verhindern und auch nicht helfend eingreifen. Was in ihnen zurückbleibt, ist die Erfahrung, daß es auf ihr eigenes Denken und Handeln nicht ankommt, daß ihre selbständige Suche nach Lösungen nutzlos ist, daß das Geschen abläuft, ohne daß sie selbst darauf Einfluß nehmen können. Solche Kinder können nur schwer das Gefühl eigener Handlungskompetenz, eigener Gestaltungsfähigkeit und eigener Bedeutsamkeit entwickeln. Sie werden allzu leicht zu Konsumenten, die immer nur etwas von anderen haben wollen. Weil sie keine Gelegenheit hatten, sich selbst einzubringen, fehlt ihnen das Gefühl, daß sie anderen etwas geben können. Sie sind und bleiben damit allzuleicht allein, finden keine Freunde, können sich nicht in Beziehungen weiterentwickeln und sind ohne sichere emotionale Bindungen schutzlos ihren Ängsten ausgeliefert.
Unsicherheit und Angst stören die Integration und Organisation komplexer Wahrnehmungen und Reaktionsmuster. Sie zwingen das Kind zu raschen, eindeutigen Entscheidungen und damit zum Rückgriff auf ältere, bereits gebahnte Bewältigungsstrategien. Was unter diesen Bedingungen nicht stattfindet und auch nicht gelingen kann, ist eine über die bereits vorhandenen Möglichkeiten hinausgehende Fortentwicklung der eigenen Fähigkeit zur Integration, Bewertung und Filterung komplexer Wahrnehmungen. Ihre Wahrnehmungen können Kinder nur dann integrieren, wenn diese in einem zusammenhängenden Kontext erlebt werden. Neue Wahrnehmungen müssen an bereits vorhandene Erfahrungen anknüpfbar sein. Ein Zustand, bei dem zu viele Wahrnehmungen ungeordnet auf einen Menschen hereinprasseln, ist selbst für Erwachsene unerträglich, für Kinder erst recht. Er macht Angst und setzt gewissermaßen all das außer Kraft, was normalerweise vom Frontalhirn geleistet werden muß, aber angesichts des dort herrschenden Durcheinanders nicht geleistet werden kann.


Es mag noch mehr Faktoren geben, die dazu beitragen, daß es heutzutage auffällig vielen Kindern nicht gelingt, hinreichend komplexe Verschaltungen in ihrem Frontalhirn herauszuformen und zu stabilisieren. Aber all diese Einflüsse zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit aus: Sie helfen dem Kind nicht, eine brauchbare Antwort auf die Frage zu finden, worauf es im Leben ankommt. Sie sagen entweder: „Auf alles!“ oder „Auf gar nichts“ oder sie behaupten gar, daß das keine vernünftige Frage sei. Für Kinder und Jugendlichen sind alle drei Antworten gleichermaßen fatal. Sie brauchen so etwas wie ein fernes Ziel, eine Vorstellung oder wenigstens eine Vision davon, weshalb sie auf der Welt sind, wofür es sich lohnt, sich anzustrengen, eigene Erfahrungen zu sammeln, sich möglichst viel Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen. Wer keine Ahnung davon hat, wohin die Reise gehen soll, weiß auch nicht, was er sich besorgen und in seinen Koffer packen müßte. Das einzige, was Kinder und vor allem Jugendliche unter diesen Bedingungen tun können, besteht darin, heute dies’ und morgen jenes nach ihrem eigenen Gutdünken in den Koffer zu stecken, bis dieses sinnlose Tun sie so sehr „anstinkt“, daß sie den ganzen Koffer angewidert in die Ecke werfen und „Null Bock“ haben.

Die Suche nach Orientierung, nach einer Sinngebung des eigenen Lebens ist dann zwangsläufig auch zu Ende. Was erhalten bleibt, ist der (natürliche) Hang zur Bequemlichkeit und zum Konsumieren. Das „Ich“ wird nun zum einzigen Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Wer dort angekommen ist, hat auch keine Lust mehr erwachsen zu werden, geschweige denn, sich Bildung anzueignen.


Literatur:


Butzmann, E.: Frühkindliche Bindungsstörungen. In: Neue Sammlung (Hrsg.: Becker, G., Frommann, A., Giesecke, H., et. al. Klett-Cotta Verlag, 42 (2002), 329-341.


Eisenberg, L.: The social construction of the hman brain. Am. J. Psychiatry 152 (1995), 1563-1575.


Francis, DD., Meaney, MJ.: Maternal care and the development of stress responses current opinion. Neurobiology 9 (1999), 128-134.


Gidd, JN., Blumenthal, J., Jeffries, NO., et al.: Brain development during childhood and adolescence: a longitudinal MRT study. Nature Neuroscience 2 (10) (1999), 861-863.


Gunnar, M.: Quality of early care and buffering of neuroendocrine stress reactions: Potential effects on the developing human brain. Preventative Medicine 27 (1998), 208-211.


Hüther, G.: The central adaptation syndrome: Psychosocial stress as a trigger for adaptive modifications of brain structure and brain function. Progress in Neurobiology 48 (1996), 569-612.


Hüther, G.: Stress and the adaptive self-organization of neuronal connectivity during early childhood. Int. J. Devl. Neurosci 16 (1998), 297-306.


Hüther, G.: Die Evolution der Liebe. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (2000).


Rutter, M.: Nature, nurture, and development: from evangelism through science toward policy and practice. Child Development 73 (2002), 1-21.


Sapolski, RM.: Stress, glucocorticoids and damage to the nervous system: the current state of confusion. Stress 1 (1996), 1-19.


Singer, W.: Development and plasticity of cortical processing ardritectures. Science 270 (1995), 758-764.


Sowell, ER., Thompson, PM., Holmes, CJ., et al.: Localizing age-relates changes in brain structure between childhood and adolescence using. Statistical parametic mapping. Neuro Image 9 (1999a), 587-597.


Sowell, ER., Thompson, PM., Holmes, CJ., et al.: In vivo brain imaging for pot-adolescent brain maturation in frontal and striatal regions. Nature Neuroscience 2 (1999b), 859-861.


Spitz, R.: Angeboren oder erworben? Die Zwillinge Cathy und Rosy – eine Naturgeschichte der menschlichen Persönlichkeit und Entwicklung. Vortragsreihe, Hrsg. v. L. Köhler. Beltz-Verlag, Weinheim/Basel (2000).


Sachbücher zum Weiterlesen:


1. G. Hüther: Biologie der Angst, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 1997.

2. G. Hüther: Die Evolution der Liebe, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1999.

3. G. Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2001.

4. K. Gebauer, G. Hüther: Kinder brauchen Wurzeln, Walter Verlag Düsseldorf, 2001.

5. K. Gebauer, G. Hüther: Kinder suchen Orientierung, Walter Verlag Düsseldorf, 2002.

6. G. Hüther, H. Bonney: Neues vom Zappelphilipp. Walter Verlag Düsseldorf, 2002.







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