Weitblick- Bildung vor Schule
Datum: Monday, 01. September
Thema: Praxis Kindergarten


Bremer Initiative für Vorschulbildung

Ein Thesenpapier

Einleitung:
Nach den schlechten Ergebnissen der PISA- Studie und dem katastrophalen Abschneiden Bremens ist viel über die Bildungspolitik gesprochen worden. Dabei gibt es inzwischen Ansätze zur Veränderung in der Schulpolitik; über Wege in der Bildungspolitik für Kinder vor der Schule wurde bisher zu wenig nachgedacht.
Es ist jedoch allgemein bekannt, dass die Aufnahme- und Lernfähigkeit und -willigkeit in den ersten Lebensjahren am allergrößten ist. Deshalb müssen besonders in dieser Altersgruppe Bildungs- und Erziehungskonzepte überdacht und neu definiert werden.
Kinder sind nicht nur Angelegenheit ihrer Familien, sondern vielmehr eine Gruppe in der Gesellschaft, die in besonderem Maße die Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft erfordert. Für die Zukunft unserer sich wandelnden Gesellschaft brauchen wir wachsame, aufgeweckte, scharfsinnige, kreative, genau beobachtende Menschen. Wir wollen unseren Kindern heute die Chance geben, sich zu diesen zu entwickeln. Diese Aufgabe liegt nicht nur in der Verantwortung der Eltern, sondern auch in der Verantwortung der Politik.
Was heißt Bildung für Kinder:
• Bildung ist ein Prozess, der es allen Menschen ermöglicht, Gesellschaft immer wieder neu zu bilden. Für Kinder geschieht dies zunächst im geschützten Raum der Familie und dann im ersten öffentlicheren Raum: dem Kindergarten. Sie prägen diese Gruppe durch ihr Tun, die Gruppe formt sie auf der anderen Seite. So erleben sie hier zum ersten Mal die Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft.
• Bildung bedeutet für Kinder ihre Persönlichkeit zu bilden. Sie formen in den ersten Jahren die Grundlagen zu eigenen Strukturen und persönlichen Mustern. Sie sind offen für alle Art von Erfahrungen, verändern sich unentwegt, bleiben sie selbst.
• Kinder erwerben im Spiel Sprache, Bewegung und Soziale Fähigkeiten, sie bilden Kreativität und Motorik aus.
Dabei spielt der Kindergarten eine zentrale Rolle: Viele Kinder verbringen einen großen Teil ihres Alltags dort. Im Zuge sich wandelnder Familien- und Gesellschaftsstrukturen, zunehmendem Wunsch und wachsender Notwendigkeit, dass Eltern berufstätig sind, wird die gesellschaftliche Bedeutung des Kindergartens immer größer.
Die gegenwärtige Finanzierungsstruktur ist fragwürdig: Warum steigt proportional mit dem Alter unserer Kinder das in sie investierte Budget, obwohl bekannt ist, dass sich ihre Aufnahme- und Lernfähigkeit und -Willigkeit umgekehrt verhält?

1. Ziele:
Wir wollen Bewusstsein für diese Thematik bei allen Betroffenen schaffen, Bildungspolitik für Kinder vor der Schule muss Stadtgespräch werden.
Die politisch Verantwortlichen müssen überzeugt werden, dass diesem Bereich finanzielle Priorität gebührt.
Ein verändertes Bewusstsein schärft die Wahrnehmung der Entwicklung von Kindern beim Einzelnen und verändert den Blickwinkel auf die gesellschaftliche Bedeutung des Themas.
Der Berufsstatus der Erzieherinnen muss deutlich aufgewertet werden: Gezieltere Ausbildung, angemessenes Gehalt, attraktive Arbeitbedingungen.
Die Bildung im Vorschulalter muss in das Ressort Bildung eingegliedert werden.
Wir wollen einen fundierten Leitfaden für vorschulische Bildung in Bremen entwickeln, der alle relevanten Ansätze, auch wissenschaftliche Erkenntnisse, mit einbezieht und schließlich für Betreuungseinrichtungen bindend wird.

2. Konstituierung:
In Bremen als kleinstem Bundesland haben wir die Chance der kurzen Wege.
Wir wollen ein Forum bilden, in dem alle die vertreten sind, die die Bedeutung des Themas Vorschulische Bildung und Entwicklung von Kindern erkennen und die sich für einen inhaltlichen und strukturellen Wandel einsetzen wollen. Dieses Forum soll breit gefächert sein und sowohl Einzelpersonen, wie Eltern, ErzieherInnen, LeiterInnen als auch Institutionen, wie Träger von Kindertagesstätten, GEW, Stiftungen, Ausbildungsstätten von ErzieherInnen, sowie WissenschaftlerInnen und politisch Verantwortliche mit einbeziehen. Diese basisnahe Organisation soll zu einer möglichst breiten Verankerung in der Öffentlichkeit führen. Um trotz dieser breiten Organisation Handlungsfähigkeit zu gewährleisten, soll sich eine Arbeitsgruppe aus den unterschiedlichen vertretenen Gruppen heraus konstituieren. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe sollen immer wieder in fortlaufenden Veranstaltungen vorgestellt und in der großen Gruppe diskutiert werden.
Das Thema Bildung von Kindern vor der Schule ist für die Zukunft unserer Gesellschaft von großer Bedeutung. Um tatsächlich zu einem Umdenken zu gelangen, muss die Öffentlichkeit in die Diskussion einbezogen werden, da Veränderungen sich nicht nur in Institutionen, sondern auch in den Köpfen aller Beteiligten vollziehen.

3. Thesen
Die Lebenswelt der Kinder ist ein Netzwerk, bestehend aus Elternhaus, Straße, Spielplatz, Freunden und deren Elternhäusern, Stadtteil, Kindergarten, und Freizeiteinrichtungen (Sport, Musik, Kunst etc.). Je älter die Kinder werden, desto weiter ziehen die Kinder innerhalb dieses Netzwerkes ihre Kreise. Eine Vernetzung der Beteiligten scheint uns daher als Grundlage einer Neuordnung von Erziehung und Bildung notwendig.

Kinder verbringen einen sehr großen Teil ihres Alltags im Kindergarten. Er ist für sie der erste öffentliche Raum außerhalb des privaten Rahmens der Familie.

Der Kindergarten: Visionen
• Ein Ort, an dem Kinder in ihrem Forschergeist als eigenständige Individuen ihren Platz zum Erkunden und zum Austauschen haben. Erwachsene/ ErzieherInnen bringen ihr Wissen, aber auch ihre Person mit ihren Möglichkeiten und Interessen ein. So entsteht Gemeinschaft.
• Ein Ort, an dem ernsthaft geschaut wird, was Kinder wollen und können. Das erfordert:
- Eingehen auf die individuelle Erfahrung im Erforschen der unmittelbaren Umgebung,
- Weniger vorgegebenes Programm, dafür ernsthaftes „wissenschaftliches“ Arbeiten am Konkreten. Z.B. entdecken die Kinder beim Spielen mit Bauklötzen „die Zahl“. Darauf gehen die ErzieherInnen direkt ein, statt zuzugucken und später ein Projekt „Die Welt der Zahl“ anzubieten.
• Ein Freiraum, ein Schonraum ohne Vorgegebenes lernen zu müssen, ein Platz zum Ausprobieren, d. h. sich für sich und in Gemeinschaft erfahren.
• Ein Ort, an dem Kinder Gefahren und Risiken einschätzen lernen können. Dies geschieht empirisch durch Erfahrung, nicht durch warnende Hinweise.
• Ein Platz, an dem sich mehrere vertraute erwachsene Bezugspersonen intensiv um einzelne Kinder und kleinere Gruppen kümmern können.
• Ein Raum für Natur- und Kulturerfahrung, kurz Welterfahrungen: Lesen, Vorlesen, Exkursionen; Sprachen und Spracherwerb, Bewegung, Naturwissenschaften, Musik und Kunst. Wahrnehmung, Motorik, Körperverstehen, Gleichgewicht sind wichtig für die Entwicklung von Kindern, aber kein Selbstzweck. Sie helfen Kindern, sich und was sie zu sagen haben auszudrücken und sind Kommunikation in der Gemeinschaft.
• Ein Ort, der in die unmittelbare Umgebung (des Stadtteils/ der Straße/ des Dorfes) integriert ist.
• Der ideale Kindergarten braucht Räumlichkeiten, die genügend Platz für diese Visionen bietet.

4. Forderungen
• Betreuungsschlüssel im Kindergarten
- Eine Betreuungskraft für sechs Kinder. Pro Gruppe sollen zwei ausgebildete ErzieherInnen arbeiten, alle weiteren können BSHG- Kräfte, Zivis, PraktikantInnen oder ähnliches sein.
- Die Betreuungsteams sollen gemischt geschlechtlich sein.
- Die Gruppengröße soll den vorhandenen Räumlichkeiten stärker angepasst werden.
• Rolle von ErzieherInnen und LeiterInnen:
- Die Aus- und Fortbildung der ErzieherInnen muss inhaltlich überdacht und auf Hochschulniveau angehoben werden.
- Wissenschaftliche Aspekte müssen in die Aus- und Fortbildung und die tägliche Arbeit einbezogen werden.
- Die Bezahlung von MitarbeiterInnen muss angemessen sein. (Finanzielle) Anerkennung fördert die Motivation zum engagierten Arbeiten sowie das Ansehen in der Gesellschaft. „Gute“ ErzieherInnen verlassen sonst die KiTas.
- Supervision von ErzieherInnen und LeiterInnen muss selbstverständlicher Teil ihrer Aufgabe werden.
• Integration des Kindergartens in das öffentliche Leben
- Durch Förderung von Angeboten für Familien kann der Kindergarten im Stadtteil neu integriert werden, z. B. durch den Ausbau von Treffpunkten, der Schaffung kultureller Angebote für Kinder und Eltern sowie der Erweiterung von Beratungsangeboten.
- Kinder sollen im Mittelpunkt von Stadtteilgestaltung stehen: durch die Schaffung neuer Bewegungsräume für Familien und durch die Beteiligung von Kindern und Eltern beim Ausbau von Spiel- und Bolzplätzen. Die Sicherung der Wege zwischen den Aufenthaltsorten fördert die frühe Selbständigkeit.
• Kindergarten als Bildungseinrichtung
- Der Kindergarten muss, genau wie die Schule, öffentliche Bildungseinrichtung werden, deren Kosten die öffentliche Hand trägt. Finanzielle Not darf kein Grund sein, warum Kinder den Kindergarten nicht besuchen können.
- Der Kindergarten soll für das Kind das Zentrum eines Netzwerkes werden. Er kooperiert mit Freizeiteinrichtungen im Stadtteil (Sportverein, Theater, Museum, Kulturhäuser etc.). Je nach Alter der Kinder kommen die Einrichtungen in den Kindergarten oder gehen die Kinder selbständig aus dem Kindergarten in die Einrichtung. So wird für die Kinder spürbar, dass sie selbst Teil des Netzwerkes im Stadtteil sind.

Vorschulpädagogik ist zukunftsentscheidend. Kinderbetreuung darf nicht länger als lästiger Kostenfaktor diskriminiert werden. Stadtteileinrichtungen, wie Bibliotheken, Musikschulen, Freizeiteinrichtungen etc. müssen ausgebaut und vernetzt werden. Das bedeutet: finanzielle Mittel müssen am Bedarf, nicht an der Haushaltslage orientiert sein!
Insgesamt soll Bildung und Entwicklung nicht nach Lehrplan absolviert, sondern als wesentlicher Teil des Zusammenlebens angesehen werden.
Es liegt in der Verantwortung der Politik in unseren Kindern Ressourcen zu schaffen, die in Zukunft verantwortungsvoll und kreativ Gesellschaft mitgestalten können und es liegt in der Verantwortung der Politik, die notwendigen Mittel dafür bereit zu stellen.

Bremen im Mai 2003 Frauke Alber, Tanja Kaller






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