Gerald Huether: Was wir den Opfern von Erfurt schuldig sind...
Geschrieben am 06.05.2002 von S.Ihl
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huether schreibt : "Was wir den Opfern von Erfurt schuldig sind.....
Gerald Hüther, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Göttingen
Erst Entsetzen, dann Betroffenheit und schließlich - an den Gräbern - Trauer und das Gelöbnis, das Geschehene nicht zu vergessen. Mahnwachen, Kerzen, Blumengebinde und trostspendende Reden. Und immer wieder das Versprechen, die Ursachen der Bluttat aufdecken und dafür sorgen zu wollen, dass so etwas nicht noch einmal geschieht. Gewaltverherrlichungen sollen aus den Medien verschwinden, das Waffengesetz verschärft, Schützenvereine und Waffenbesitzer strenger kontrolliert werden. Eltern sollen wieder mehr mit ihren Kindern reden und Lehrer künftig besser darauf achten, dass die Eltern auch davon erfahren, wenn ihr Kind von der Schule geflogen ist.
Schnell kommen sie über die Lippen, all diese Gelöbnisse, Versprechen und Ermahnungen. Ebenso schnell, so ist leider zu befürchten, werden sie auch wieder vergessen sein. Jeder weiß, dass jemand, der eine Waffe haben will, sich auch eine beschaffen kann, dass jemand, der gewaltverherrlichende Bilder sehen will, diese auch irgendwo findet, und dass man nicht von heute auf morgen andere Eltern oder Lehrer herbeizaubern kann, übrigens ebenso wenig wie andere Schüler. Und für mehr Schulpsychologen wird auch in Zukunft kein Geld da sein.
Wozu also dann all dieses Gerede? Wem nützen diese eilfertigen Lippenbekenntnisse, die uns glauben machen wollen, wir oder „die da oben“ hätten alles im Griff, alles werde wieder gut? Sie sollen uns helfen zur „Normalität“ zurückzukehren, und sie nützen vielleicht auch denen, die sie verkünden. Wenn schon tatenlos, dann wenigstens nicht wortlos! Den Opfern helfen solche schönen Absichtserklärungen jedenfalls nicht. Auch nicht ihren Angehörigen. Sie brauchen etwas anderes. Sie brauchen das Gefühl, dass dieser furchtbare Tod nicht sinnlos bleibt. Sinn bekäme er freilich erst dann, wenn er zum Ausgangspunkt eines Änderungsprozesses würde, der so, ohne diese Opfer nicht in Gang gekommen wäre.
Was wir den Ermordeten von Erfurt also schuldig sind ist, dass wir aufhören darüber zu reden, was zu tun wäre und stattdessen handeln. Jeder an seinem Platz und jeder im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Und eine Möglichkeit etwas zu ändern haben wir alle: Wir können anderen Menschen und ganz besonders Kindern und Jugendlichen ab sofort in die Augen sehen, wenn wir mit ihnen sprechen. Wer einem anderen Menschen in die Augen schaut, der kann auch erkennen, was sich hinter einer scheinbar „ganz normalen“ Fassade verbirgt, die dieser Mensch um sich herum aufgebaut hat und die er nach außen vorzeigt. Mehr noch, wer es wagt, einem anderen Menschen in die Augen zu schauen, der kann sogar - und das hat uns der Lehrer Heise in Erfurt vorgemacht - diese Fassade mit einem einzigen Blick zum Einsturz bringen.
Warten wir also nicht mehr auf große Veränderungen, sondern tun wir einfach das, was jeder Mensch tun sollte, wenn er einem anderen Menschen begegnet: Durch einen fragenden Blick prüfen, was sich hinter dem vorgehaltenen Gesicht und dem schönen Gerede verbirgt.
Robert S. ist offenbar seit seiner Kindheit bis zu diesem schrecklichen Ereignis nie jemandem begegnet, der ihn genau so angeschaut hat und der ihn gezwungen hat, diesen Blick zu erwidern. Wir können nun dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht. Daß wir künftig genauer hinschauen, das zumindest sind wir den Opfern von Erfurt schuldig.
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