Mehr Autonomie für Schulen
Geschrieben am 09.05.2002 von S.Ihl
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kobl schreibt : "Die PISA-Studie zeigt: Im Feld der europäischen Länder erwiesen sich gerade jene Systeme als besonders leistungsfähig, deren Struktur in den vergangenen Jahren zum Teil sehr drastisch dezentralisiert wurde und die nun auf weitgehende Autonomie der Schulen setzen. Systeme mit stark hierarchischer Struktur weisen dagegen ein deutlich schwächeres Leistungspotenzial auf.
Aus diesen Hinweisen leitet sich nahezu zwingend die Forderung nach größerer Autonomie auch im deutschen Schulwesen ab. Die hierarchische Struktur der Kultusbürokratie hat sich nicht als geeignet erwiesen, ein effektives und effizientes, pädagogisch fundiertes Schulsystem zu gestalten.
Dies hängt mit einer Entwicklung zusammen, welche sich nicht nur im Bildungsbereich in der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland in den letzen Jahren in immer stärkerem Maße ausgebildet hat: An der Spitze der Hierarchie sitzen nicht Fachleute. Diese Positionen werden nach parteipolitischen Erwägungen besetzt. Fachkompetenzen in einem Ressort sind nicht Voraussetzungen für ein Ministeramt. Richtungsentscheidungen werden allzu oft nur aus wahltaktischen und nicht aus fachlichen Kriterien getroffen. Anders gesagt: Es ist in der Regel abhängig vom Willen eines Fachministers und seines Stabes, inwieweit er/sie sich in die fachlichen Grundlagen seines Ressorts einarbeiten kann. Führungskraft, Durchsetzungsvermögen und andere strategisch-taktische Kompetenzen im politischen Umfeld sind im heutigen System wohl wichtig als Führungsvoraussetzungen, aber Fachkenntnisse, fachwissenschaftlich fundiertes Urteilsvermögen, Praxiserfahrung im jeweiligen Umfeld sind entscheidendere Kriterien für zukunftsweisende Wegweisungen.
Keine erfolgreiche Arbeit ohne die Betroffenen
Auf die Praxis bezogen heißt das: gesellschaftlich gesehen kann kein Bereich ohne die Beteiligung der Betroffenen - auch im planerisch-konzeptionellen Bereich - erfolgreich arbeiten. Wo aber findet sich im staatlichen Bildungsbereich die pädagogische Kompetenz der Lehrer im konzeptionellen Feld?
Das deutsche Schulsystem krankt nicht an mangelnden diagnostischen Fähigkeiten der Lehrer, an falscher Ausbildung der Pädagogen, an unzureichender didaktischer Kompetenz der Lehrkräfte und wie die Schuldzuweisungen noch mehr lauten! Verantwortlich für das schlechte Abschneiden ist die Organisationsstruktur des Bildungsbereichs.
Wir haben auch nicht ein Defizit an Reformen, sondern ein Übermaß an unnötigen, da unzureichend durchdachten Veränderungen. Wir haben ein Zuwenig an Ressourcen im Schulwesen und eine falsche Verteilung der Geldmittel. Gefördert wird nicht dort, wo Probleme sind (vorschulische Bildung, Primarstufe, Integration von Emigranten), sondern da, wo Publicity zu erwarten ist oder wo Lobby-Interessen sich durchsetzen.
Provokante Bilder
Um die Sache auf den Punkt zu bringen, habe ich einige provokante Bilder formuliert, die aus meiner Sicht diese Dilemmata beschreiben:
1. „Die Schule als Gemischtwarenladen“ - die Überbürdung der Institution (Zahnprophylaxe, Migrantenintegration, AIDS-Prophylaxe, Suchtprophylaxe, Verkehrserziehung ... und, und, und)
2. „Wir rennen jeder Sau hinterher, die durchs Dorf getrieben wird“ - Was irgend jemand in unserer Gesellschaft als Ziel definiert, soll die Schule leisten - bis das nächste Ziel formuliert wird.
3. „Nun haben wir das Schwein schon so oft gewogen, aber es wird nicht schwerer davon“ - Diagnostik anstelle der Therapie bzw. Hamburger Schreibprobe statt Förderstunden
4. Der Nürnberger Trichter funktioniert immer noch nicht oder „Friss Vogel oder stirb“ - Schule ist ein Selektionsinstrument, aber ohne die nötigen Ressourcen zur Förderung.
5. Lernen mit Spaß in der Fun-Gesellschaft - alles muss Spaß machen, sogar Grammatik - oder der Lehrer in Konkurrenz zu Thomas Gottschalk
6. Computer-Euphorie statt Lernkultur (Kinder können nicht lesen, sollen aber an Laptops angestöpselt werden)
Im Klartext heißt das:
Zu 1: Die Schule ist in den letzten Jahren mit so viel zusätzlichen Aufgaben überbürdet worden, dass sie ihrer Kernaufgabe nicht mehr nachkommen kann. Da sind zum einen die oben angeführten gesellschaftlichen Aufgaben, die in Ermangelung anderer aktiver Sozialisationsagenturen von der Schule übernommen werden sollen. Zum anderen tritt in vielen Fällen das Elternhaus in erzieherischen Fragen so stark in den Hintergrund, dass Lehrer nicht mehr als Experten für die Organisation und Moderation von Lernprozessen tätig sein können, sondern pädagogisches und oft genug auch psychologisches Krisenmanagement betreiben müssen, da aufgrund der familiären Erziehungsdefizite an Unterricht gar nicht zu denken ist.
Zu 2: Viele Aufgaben, welche die Schule übernehmen soll, wurden ihr nicht auf Grund einer pädagogisch fundierten Analyse übertragen, sondern durch Verwaltungsvorschriften, Erlasse, kommunale Vorgaben bis hin zu Wettbewerben. Häufig genug stehen gesellschaftliche Partikularinteressen von einflussreichen Gruppierungen hinter solchen Aufgaben. Damit wird Schule einseitig zu einer gesellschaftlichen Sozialisationsagentur. Es wird nicht gefragt, welchen Nutzen die jeweilige Aufgabe für das individuelle Wachstum und die Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen hat. Auf der anderen Seite wurden der Schule die Mittel entzogen, die sie benötigt, um ihre Kernaufgaben erfüllen zu können. Erwähnt werden soll hier nur der Stütz- und Förderunterricht, der annähernd auf Null zurückgefahren wurde. Als Folge boomen private, profitorientierte Nachhilfe- bzw. LRS-Institute.
Zu 3: Kultusminister werden nicht müde, zu behaupten, ein Grund für das schlechte Abschneiden bei PISA läge in den unzureichenden diagnostischen Fähigkeiten der Lehrkräfte. Dies ist in weiten Teilen ein unzureichender Erklärungsansatz! Die große Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer können Lernschwächen gut und schnell erkennen - aber was dann? Es gibt keine Förderstunden und mit der vielgepriesenen „Inneren Differenzierung“ kommt man in vielen Fällen auch nicht sehr weit. So werte ich den Verweis auf die Diagnostikprobleme als rhetorischen Schachzug: Man verweist auf ein Randproblem, um vom Hauptpunkt - der Unterfinanzierung der Schulen - abzulenken. Das ist pädagogisch unsinnig, aber entspricht vordergründig dem Grundsatz des Null-Kosten-Prinzips.
Zu 4: Problemgruppe nach PISA sind eindeutig die Kinder aus Migrantenfamilien. Genau auf diesen Punkt wird aber in den Stellungnahmen selten exakt eingegangen. Auch die an jeder Schule und in jedem Stadtteil mit einer größeren Populationsdichte dieses Bevölkerungssegments auftretenden Probleme, werden in der Regel nur sehr zurückhaltend betrachtet. Was aber ist Fakt? Die Kinder von Aussiedlerfamilien kamen häufig gegen ihren Willen, wurden aus ihrem Kulturkreis gerissen und bekamen keine Eingliederungshilfen. Dies wird der Initiativkraft der jeweiligen Eltern überlassen. Wenn von dieser Seite nichts erfolgt bzw. wenn die Eltern ebenfalls Integrationsprobleme haben, stehen für die Kinder keinerlei Förderungen an. Bei türkischen Familien entwickelte sich in den letzten Jahren in einem Teil der Fälle eine zunehmende kulturelle Sonderentwicklung - zu beobachten am Konsum türkischer Fernsehprogramme, an der Ghettobildung und der Unkenntnis der deutschen Sprache (vor allem bei den Müttern). Ergebnis bei beiden Bevölkerungsgruppen: die Kinder verfügen zu Schulbeginn weder über sprachliche Basisqualifikationen noch über kulturelle Kompetenzen. Da weder in noch außerhalb der Schule verpflichtende Sprachförderung und Integrationsanstrengungen unternommen werden (können) und da die finanziellen Ressourcen fehlen, bleibt es bei der Randgruppenexistenz.
Zu 5: Schule, genauer gesagt, Lehreraus- und fortbildung, stand im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte unter dem Primat der Methode gegenüber dem Inhalt. Und sehr häufig wurde die Methode unter dem Kriterium der Wirksamkeit als Motivationsinstrument bewertet. Inhaltliche Fragen, Kernkompetenzen gerieten in der unterrichtlichen Wirklichkeit ebenso wie in der Bewertung der Leistung von Unterricht aus dem Fokus gesellschaftlicher Wertschätzung. Nun ist es aber eine Binsenwahrheit: Lernen macht nicht immer Spaß und ist in der Regel mit Arbeit, Anstrengung, Mühe verknüpft. Die Freude sich meist erst mit dem Erfolg ein. Dies akzeptieren viele Eltern klaglos beim Sport und anderen privaten Unternehmungen. Tritt im Unterricht aber Frust auf, wird dies häufig sofort als Kennzeichen für schlechten Unterricht gewertet. Problematisch wird es, wenn der „Spaßfaktor“ in Unterrichtsprozessen als relevantes Moment in die Bewertung von Lehrerleistungen einbezogen wird.
Zu 6: Was ist das Problem, für das der Computer die Lösung sein soll? Neil Postman, der amerikanische Kulturkritiker, stellte diese Frage in abgewandelter Form, um Phänomenen unserer Zeit auf die Spur zu kommen. Und in der Tat ist diese gedankliche Umkehrung der üblicherweise gestellten Frage nach der Nützlichkeit eines Werkzeuges sehr hilfreich.
Also stellen wir uns diese Frage: Was ist das für ein Problem, für das der Computer die Lösung sein soll? Zuerst einmal stehen wir ein wenig ratlos da. In der Tat wird in der Anpreisung der Nutzung des Computers in aller Regel kaum auf eine Krise, ein Problem, eine Fragestellung eingegangen. Die Multimediatechnologie wird vielmehr als in der Gesellschaft vielfältig akzeptiert, gebraucht und genutzt dargestellt und das Nicht- oder Zuwenig-Vorhandensein dieser Geräte in der Schule stellt sich in der Sicht der Befürworter als Defizit bzw. als Folge der üblichen beamtenhaften Schlafmützigkeit der Lehrer dar. Der Computer soll schon allein durch sein bloßes Vorhandensein in außerschulischen Anwendungen, also allein durch die Macht des Faktischen, ein unverzichtbares Arbeitsmittel in der modernen Schule unserer Zeit sein. Das Medium selbst, nicht das ihm zugrundeliegende kausale Problem steht im Mittelpunkt der Agitation.
Heute wird der Computer definiert als „elektronisch arbeitende Maschine, mit der sich verschiedene Arten von Daten verarbeiten lassen. Computer können Befehlssätze oder Programme entgegennehmen und die in den Programmen enthaltenen Befehle ausführen. Dazu nimmt der Computer Berechnungen numerischer Daten oder eine Auswertung und Verarbeitung von Informationen vor. (2)
Worin liegt also das Problem, dessen Lösung der Computer darstellt? Es ist die begrenzte Fähigkeit des menschlichen Gehirns vorgefunden Daten in möglichst rascher Geschwindigkeit auswerten oder verarbeiten zu können. Aber ist das auch das Problem, mit dem sich pädagogische Innovationen zu befassen haben? Geht es in der Schule wirklich darum, noch mehr Daten und Fakten zu erfassen, der Überfülle der vermittelten Kenntnisse noch mehr Informationen hinzuzufügen und letztlich die Schüler zur enzyklopädischen Lernauffassung eines Hobby-Schmetterlingssammlers zu erziehen? Besteht die eigentliche Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern nicht vielmehr darin, eine exemplarische Auswahl im Lernstoff zu treffen und weitergehend zu einer zur Bewertung der vorherrschenden Datenflut anzuleiten? Liegt der Sinn von Erziehung und Bildung nicht darin, die Schülerinnen und Schüler zu den Sinnfragen ihrer individuellen und sozialen Existenz zu führen, Urteilsfindung anzubahnen und so zur Identitätsgestaltung der Heranwachsenden beizutragen? (3)
Zusammenfassung
Die PISA-Studie brachte zwar für Insider nicht viel Neues, sollte dessen ungeachtet aber nicht gering geachtet werden. Immerhin zeigte sie in einer empirisch einwandfreien Analyse das Dilemma der Schule in Deutschland auf und führte dazu, dass Bildung wieder zum Thema in Deutschland wurde. Fatal ist allerdings: Gerade die Gruppe, welche das Dilemma verursachte - und das sind die Bildungspolitiker - will sich jetzt geradezu übertreffen in Schuldzuweisungen und Lösungsvorschlägen. Und natürlich wird in den seltensten Fällen von der Politikerkaste jeglicher Couleur Selbstkritik geübt. Nein. Es wird kräftig ausgeteilt und die Ursachen in den Schulen, der Lehrerausbildung, den Kompetenzen der Lehrkräfte usw. ausgemacht. Dies ist der falsche Weg! Richtig ist in dieser Situation, die Betroffenen zu Beteiligten zu machen und die Lehrerinnen, Lehrer und Schulleiter vor Ort gemeinsam mit den Eltern und den anderen beteiligten Gruppen, Lösungen entwickeln zu lassen. Dies setzt allerdings auch voraus, dass die finanziellen Ressourcen zur Realisierung ebenfalls dezentral eingesetzt werden. Wir brauchen neue Lösungsansätze und die Richtung ist klar: Weg von hierarchisch organisierten Strukturen und der Herrschaft von Schulverwaltern hin zur verantwortlichen konzeptionellen Planung von Lernprozessen in selbstverwalteten Bildungsorganisationen. Die erfolgreichen Reformen in unseren skandinavischen Nachbarländern und die seit 70 Jahren in den Waldorfschulen praktizierte kollegiale Selbstverwaltung sprechen eine deutliche Sprache. Autonomie im Schulwesen ist keine Utopie, sonden - in Verbindung mit gesellschaftlicher Konsensbildung über Ziele und Standards und statt der hierarchischen Schulaufsicht einem Instrumentarium der Qualitätsicherung - der Schritt zu mehr Effektivität und Effizienz im Bildungswesen.
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