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Grenzen genetischer Programmierung/Gerald Hüther
Geschrieben am Monday, 08.September. @ 17:36:22 CEST von S.Ihl

S. Ihl schreibt:
"Einflüsse der intrauterinen Versorgung auf die Genexpression

Gerald Hüther, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Göttingen

Lange Zeit waren Biologen und Mediziner der Ansicht, dass es für jedes Merkmal, das ein Lebewesen besitzt auch ein spezifisches Gen gäbe, das die Ausbildung dieses Merkmals lenkt.

Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die meisten phänotypischen Merkmale äußerst komplex und viele Gene an der Regulation ihrer Ausprägung beteiligt sind. Das gilt vor allem für so komplizierte Organe wie das Gehirn und für so komplizierte Leistungen wie das Verhalten. Deshalb wird man wohl auch in Zukunft vergeblich nach einzelnen Genen suchen, die z.B. Schizophrenie oder die sog. ADHS-Symptomatik verursachen.
Im Lauf der Evolution haben sich die Beziehungen der verschiedenen Lebensformen immer wieder verändert. In einer sich ständig verändernden Welt konnten sich diejenigen Arten am erfolgreichsten durchsetzen, deren Hirnentwicklung und deren Verhalten nicht durch starre genetische Programme determiniert wurde, deren genetische Programme also so beschaffen waren, dass sie nachträgliche Veränderungen der das Verhalten bestimmenden neuronalen Verschaltungsmuster zuließen. Die fortschreitende Öffnung der ehemals starren genetischen Programme wurde zu einer Voraussetzung für Anpassungs- und damit Überlebensfähigkeit. Diesem Umstand verdanken wird die Fähigkeit, Lernen zu können, Erfahrungen machen zu können, uns im Leben immer wieder an neue Verhältnisse anpassen und die unserem Denken, Fühlen und Handeln zugrundeliegenden biologischen Strukturen verändern zu können. Einerseits bot die Öffnung genetischer Programme somit eine einzigartige Chance zu immer neuen Anpassungsleistungen. Andererseits lag in dieser Öffnung aber auch eine Gefahr. Wenn die genetischen Programme nicht mehr genau festlegen, wie sich das Nervensystem zu entwickeln hat, müssen andere Regelmechanismen gefunden werden, die diesen Prozess lenken.
Keine einzige Nervenzelle weiß, wann und wie lange sie sich zu teilen und wohin sie zu wandern hat. Es gibt auch kein Programm dafür, das bestimmt, wohin eine Nervenzelle ihre Fortsätze auswachsen soll. Wenn eine Nervenzelle gebildet wird, so gelangt sie in bestimmte umweltlokale Bedingungen. Der dort auf sie einwirkende charakteristische Cocktail von Hormonen, Botenstoffen, Substraten und Metaboliten bewirkt, dass sie eine ihrer vielen Funktionen einschaltet. Sie verfügt über ein Spektrum genetischer Programme, die aber eher als Handlungsanleitungen, als Optionen zu verstehen sind. Was daraus wird, hängt davon ab, wie diese Optionen abgerufen werden, und unter welchen Bedingungen diese Optionen zur Entfaltung kommen. Die Rahmenbedingungen hierfür werden von den jeweiligen Eltern bereits pränatal (als charakteristische intrauterine Entwicklungsbedingungen) und in noch stärkerem Maß postnatal (als familiär tradierte nachgeburtliche und juvenile Entwicklungsbedingungen) bestimmt. Dieses Prinzip, dass die Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Nachkommen von der jeweiligen Elterngeneration festgelegt werden, ist bereits bei den ersten Vielzellern nachweisbar. Beispielsweise bei den kugelförmigen Volvox-Algen. Sie vermehren sich, indem eine Mutterkugel eine einzelne Zelle in den Innenraum fallen läßt, aus der sich eine neue Tochterkugel bildet. Niemals könnte eine neue Tochterkugel entstehen, wenn sie sich außerhalb dieses lenkenden Rahmens der Mutterkugel entwickeln müßte. Damit Tochterkugeln entstehen, braucht es den geschützten Raum, das von den Eltern vorgegebene Milieu, die von ihnen festgelegten Rahmenbedingungen. Diese sind nicht nur bei Volvox, sondern bei allen Vielzellern normalerweise genau so beschaffen, dass sich das neu entwickelnde Lebewesen optimal entfalten und seine genetischen Potenzen auch wirklich „programmgemäß“ umsetzen kann.

Einfluss der Ernährung auf die Hirnentwicklung

Auch die Embryonalentwicklung ist beeinflussbar, etwa durch nutritive Faktoren. Biogene Amine beispielsweise, die im erwachsenen Gehirn als Transmitter benutzt werden, erfüllen während der Embryogenese ganz andere Aufgaben. Sie wirken dort als Signalstoffe, die bestimmte Entwicklungsprozesse in bestimmte Richtungen lenken. So spielt etwa das Serotonin eine wichtige Rolle bei der Herausformung des Gesichtsschädels von Säugetieren. Es muss zum richtigen Zeitpunkt in den richtigen Konzentrationen im Bereich des sich herausbildenden Gesichtsschädels bereit gestellt werden, damit die dort angesiedelten Zellen in die richtige Richtung wandern können und sich in einer bestimmten Weise anordnen. Die Synthese und Freisetzung von Serotonin ist bereits während der Embryonalentwicklung beeinflussbar, sie ist abhängig von der Tryptophan-Verfügbarkeit und durch verschiedene pharmakologische Manipulationen veränderbar. Frühe Eingriffe in die Synthese und Bereitstellung von Serotonin können daher zu morphogenetischen Fehlentwicklungen führen. Aber nicht nur Serotonin, sondern viele andere, später im erwachsenen Gehirn als Botenstoffe verwendete Substanzen, mit denen Nervenzellen kommunizieren, werden während der frühen Entwicklung als Signalstoffe genutzt, um bestimmte Weichen zu stellen. Sie lenken die Induktion der Genexpression. Die Bereitstellung dieser Signalstoffe ist von außen beeinflussbar. Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt man experimentelle Veränderungen des „Signalcocktails“ erzeugt, können sehr unterschiedliche Entwicklungsprozesse in andere Richtungen gelenkt werden. Verabreicht man beispielsweise schwangeren Ratten eine Diät, die 5mal so viel Tryptophan enthält wie normales Rattenfutter, so besitzen die Jungen nach der Geburt ein etwas anders ausgebildeten serotonerges System. Auch die Position eines Rattenembryos im Uterus beeinflusst seine Versorgung. Rattenmütter haben einen V-förmigen Uterus mit zwei Uterushörnern, in denen die Embryonen perlschnurartig hintereinander aufgereiht liegen. In der Mitte eines jeden Hornes gibt es jedoch eine Region, in der die Versorgung der Embryonen am schlechtesten ist. Wer dort liegt, kommt unabhängig von seinen genetischen Anlagen, als kleinere Ratte zur Welt, jedenfalls im Vergleich zu den anderen Geschwistern, die an besseren Positionen angesiedelt waren und eine bessere Versorgungslage hatten. Man kann nun aus dem Wurf einer Mutter die jeweils schwersten und die leichtesten gleichgeschlechtlichen Geschwister markieren und sie so lange aufziehen, bis sie erwachsen sind, um anschließend die Frage zu stellen: Hat das Geburtsgewicht gleichgeschlechtlicher Geschwister einen Einfluss auf deren weitere Entwicklung. Wir sind dieser Frage unlängst im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung nachgegangen und haben herausgefunden, dass diejenigen Ratten, die mit einem geringeren Geburtsgewicht als ihre gleichgeschlechtlichen Geschwister zur Welt kommen, als erwachsene Tiere eine geringere serotonerge Innervationsdichte in ihrem frontalen Cortex aufweisen. Dieser Befund erinnert an eine Arbeit, die im Rahmen der Zwillingsforschung von René Spitz durchgeführt worden ist. Normalerweise untersucht man ja in der Zwillingsforschung, wie unterschiedlich sich eineiige Zwillinge entwickeln, wenn sie kurz nach der Geburt getrennt werden. Im Gegensatz dazu ist René Spitz am Beispiel des Zwillingspaares Kathy and Josie der Frage nachgegangen, wie unterschiedlich eineiige Zwillinge werden können, wenn sie zusammenbleiben und in der gleichen Familie aufwachsen. Der einzige Unterschied zum Zeitpunkt der Geburt zwischen diesen beiden Mädchen bestand darin, dass Kathy etwas schwerer war und als Erste geboren wurde. René Spitz hat die Mädchen 18 Jahre lang beobachtet und auf eindringliche Weise nachweisen können, wie diese frühen unterschiedlichen Anfangsbedingungen spätere Reifungsprozesse beeinflussen. Das etwas kräftiger entwickelte Mädchen lernte zunächst schneller Laufen und entwickelte eine besonders gute Motorik. Sie war sehr aktiv und explorierte die Welt bis zum Alter von 1 – 2 Jahren außerordentlich intensiv. Das andere Mädchen konnte mit dieser Entwicklung nicht mithalten. Es konzentrierte sich stärker darauf, seine Beziehungen zu anderen zu gestalten. Sie erwarb eine hohe nonverbale kommunikative Potenz, lernte früh Sprechen und erwies sich bei der Herstellung von Kontakten mit anderen als außerordentlich kompetent, war sehr charmant und anziehend. Mit etwa 5 Jahren war so aus dem einem Zwillingsmädchen eine motorische Künstlerin geworden, aus dem anderen sozusagen eine „Sozialkünstlerin“. Diese unterschiedlichen Fähigkeiten blieben auch während der weiteren Entwicklung erhalten und bestimmten schließlich sogar die Wahl der späteren beruflichen Laufbahn.

Feinschmecker schon im Mutterleib

Zum frühen Erfahrungsspektrum, das auf den sich entwickelnden Fötus einwirkt und seine Entwicklung bestimmt, gehören auch sensorische Einflüsse. Im letzten Schwangerschaftsdrittel hört der Embryo bereits die Stimme der Mutter, er kann bestimmte Melodien, die ihm vorgespielt werden, wiedererkennen, läßt sich durch Geräusche aufschrecken und durch das Vorsingen oder Vorspielen häufig gehörter Lieder oder Musikstücke beruhigen. Das ist inzwischen allgemein bekannt. Weniger bekannt ist, dass der sich entwickelnde Fötus auch über Geruchs- und Geschmacksempfindungen verfügt, die bereits vor der Geburt aktiviert werden. Alle neugeborenen Säugetiere suchen nach der Geburt instinktiv die Brustwarze der Mutter. Kaninchen beispielsweise kriechen nach der Geburt am Bauchfell der Mutter entlang und finden auf diese Weise die Brustwarzen. Wenn man nun bei einer Kaninchenmutter die Brustwarzen mit Seife abwäscht, so finden die Neugeborenen die Brustwarzen nicht mehr. Träufelt man dann das Fruchtwasser der betreffenden Kaninchenmutter auf ihren Rücken, so suchen die neugeborenen Kaninchen die Brustwarzen auf dem Rücken der Mutter. D.h. die Neugeborenen suchen in Wirklichkeit keine Brustwarzen, sondern sie suchen einen bestimmten Geruch, den sie bereits intrauterin kennengelernt und mit der dort herrschenden Geborgenheit assoziiert haben. Wenn sie auf die Welt kommen, suchen sie das, was sie bereits kennen und was ihnen bis dahin Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hat: Nicht nur das Schaukeln der Mutter, nicht nur ihre Stimme, sondern eben auch ihren Duft. An den Brustwarzen der Mutter werden die identischen Pheromone abgegeben, die auch im Fruchtwasser enthalten sind. Ändert man die „Duftstruktur“ des Fruchtwassers, beispielsweise in dem man vor der Geburt durch eine Injektion Zitronenaroma zufügt, so suchen die neugeborenen Kaninchen die Brustwarzen nach der Geburt überall dort, wo es nach Zitronenaroma riecht. Auch beim Menschen gibt es Hinweise darauf, dass bereits intrauterin kennengelernte Aromastoffe, also beispielsweise Zimt oder Knoblauch von dem ungeborenen Kind wahrgenommen und mit der im Mutterleib herrschenden Geborgenheit assoziiert werden. Das Ungeborene erkennt also gewissermaßen, was zum normalen Ernährungsspektrum der Mutter gehört und es findet dann in der Muttermilch bekannte Geschmacksnoten wieder, die es aus seinem vorgeburtlichen Leben im Mutterleib bereits kennt. Es läßt sich dann auch mit Zimtgeruch oder mit Knoblauchduft besonders gut beruhigen. Diese Erkenntnisse bedeuten nicht, dass Mütter ihre Kinder schon pränatal zur Gourmets machen sollen, indem sie möglichst viele unterschiedliche Gewürze und Speisen zu sich nehmen, sondern dass das ungeborene Kind bereits vor der Geburt darauf vorbereitet wird, wie die Milch der betreffenden Mutter schmeckt.

Erfolgreich bewältigte Probleme stärken das Selbstbewusstsein

Mit der Geburt verläßt jedes Kind eine bis dahin schützende geborgene Welt. Wie wir alle noch immer als Erwachsene, versucht auch ein Neugeborenes sich in dieser fremden Welt zurechtzufinden, indem es das aussucht und wiederfindet, was es bereits kennt, mit dem es vertraut ist. Wenn es schreit und sein inneres Bedürfnis nach Geborgenheit zum Ausdruck bringt, so löst es auf diese Weise bei der Mutter eine Reaktion aus, die ihm hilft, mit seiner Angst umzugehen und seine Angst zu überwinden. Jedesmal, wenn das gelingt, macht das Kind zwei wichtige Erfahrungen. Es lernt, dass es in der Lage ist, Probleme zu bewältigen, und dass es jemanden gibt, der ihm bei der Bewältigung dieser Probleme behilflich ist. Diese Erfahrung festigt die emotionale Bindung zur Mutter und das Vertrauen in die mütterlichen Kompetenzen. Je häufiger Kinder die Erfahrung machen können, dass Probleme auf diese Weise lösbar werden, desto sicherer werden die Bindungsbeziehungen zu den betreffenden Bezugspersonen. Wer keine Probleme hat, kann weder sichere Bindungen ausbilden, noch die Erfahrung machen, dass die Aneignung eigener Kompetenzen Spaß macht und das Selbstwirkungskonzept stärkt. In gewisser Weise gilt das auch schon für Tiere. Ein Beispiel aus der Jagdhundezucht:
Wenn man einen Wurf Welpen nicht an der Mutterbrust, sondern mit einer Flasche großzieht, kann man diese Flaschen mit unterschiedlich großen Öffnungen versehen, mit kleinen Öffnungen, die dazu führen, dass die Tiere deutlich länger als normalerweise an der Mutterbrust saugen müssen, mit sehr großen Öffnungen, die dazu führen, dass die Tiere bereits innerhalb von wenigen Minuten satt sind, und mit Öffnungen, die so beschaffen sind, dass die Welpen mit diesen Flaschen etwa genauso schnell satt werden wie auch normalerweise an der Mutterbrust. Zieht man nun die Welpen eines Wurfs Jagdhunde unter diesen drei verschiedenen Bedingungen auf, so stellt man fest, dass diejenigen Tiere später die besten Ausbildungsleistungen erbringen, denen man das Leben während der frühen Entwicklung mit dem kleinen Loch in der Flasche besonders schwer gemacht hatte. Offenbar hatten sie besonders früh gelernt, Probleme zu bewältigen ohne daran zu verzweifeln.

Ein Kind, das eine sichere Bindungsbeziehung entwickelt hat, übernimmt all das, was diese Bindungspersonen selbst an Kompetenzen, Fähigkeiten und Haltungen überliefern. Sogar die angeborene Furcht vor Schlangen beispielsweise kann völlig überlagert werden, wenn ein Kind bei einem Vater aufwächst, der ihm in schwierigen Situationen zur Seite steht, mit dem es gemeinsam viele Probleme lösen, aber auch viel Freude teilen kann, und der eben zufälligerweise auch noch ein großer Schlangennarr ist.

Erfahrungen prägen Verschaltungsmuster im Gehirn

Seit kurzem erst haben sich die Hirnforscher von einem Modell verabschiedet, das die Entwicklung des menschlichen Gehirns so ähnlich beschrieb, wie den Zusammenbau einer Maschine, beispielsweise eines Autos: Man glaubte, unreife Verschaltungen würden nach einem Masterplan zu komplexen Verschaltungen herausgeformt, anschließend würde dieses Gehirn eine Zeit lang benutzt, dabei nutzte es sich im Laufe der Jahre mehr und mehr ab bis es sich schließlich nicht mehr zur Lebensbewältigung eignete und degenerierte. Dieses lineare mechanistische Modell ist inzwischen durch ein dynamisches Modell ersetzt worden. Dieses neue Modell geht davon aus, dass es die jeweiligen Nutzungsbedingungen sind, die die spätere Strukturierung der neuronalen Verschaltungen im Gehirn lenken und steuern. Um komplexe Verschaltungen in seinem Gehirn aufbauen zu können, braucht ein Mensch stabilisierende Einflüsse, daneben gibt es aber auch destabilisierende Einflüsse, die bereits entstandene komplexe Verschaltungen wieder einfacher werden lassen. D.h.: Die Art der Nutzung des Gehirns ist entscheidend dafür, welche neuronalen Verschaltungsmuster im Gehirn, aufgebaut und stabilisiert werden können. Während der Embryonalphase werden viel mehr Nervenzellen angelegt, als später gebraucht werden. Etwa ein Drittel der Nervenzellen findet keinen Kontakt zu anderen. Weil es ihnen nicht gelingt sich in funktionelle Netzwerke zu integrieren, gehen sie zugrunde. Am Leben bleiben nur diejenigen Nervenzellen, die in funktionelle Regelkreise eingebettet werden können. Das gleiche Entwicklungsprinzip gilt auch für die Ausreifung von Fortsätzen und für die Ausbildung von neuronalen Verschaltungen, die sich in den verschiedenen Hirnregionen von kaudal nach rostral, also von hinten nach vorn sequentiell vollzieht.

Gesang der Nachtigall: Wie der Vater, so der Sohn

Wenn wir dem Prozess der Entwicklung des menschlichen Gehirns vor der Geburt und während der frühen Kindheit zuschauen könnten, würde uns wohl vor Faszination der Atem stillstehen. Wir würden sehen, wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert zunächst Millionen und Abermillionen Nervenzellen durch Zellteilungen gebildet werden und sich zu Zellhaufen ordnen. Wir könnten aus diesen Nervenzellen auswachsende Fortsätze erkennen, die mit anderen Zellen in Kontakt treten und wir müßten zuschauen, wie ein erheblicher Teil dieser Nervenzellen einfach abstirbt und für immer verschwindet, weil es ihnen nicht gelungen war, sich in ein Netzwerk einzuordnen und dort eine bestimmte Funktion zu übernehmen. Die verbliebenen Nervenzellen formieren sich anschließend zu deutlich voneinander abgegrenzten Verbänden, sogenannten Kerngebieten, und beginnen ein immer dichteres Netzwerk von Fasern und Fortsätzen innerhalb dieser Kerngebiete und zwischen diesen verschiedenen Kerngebieten herauszubilden. Während dieser Phase, die sich in den einzelnen Bereichen des Gehirns in einer zeitlichen Reihenfolge von hinten (Hirnstamm) nach von (Stirnhirn) vollzieht, scheint es so, als ob sich jede Nervenzelle mit jeder anderen über so viele Kontakte wie nur irgendwie möglich verbinden wollte. Zu diesem Zeitpunkt (im Hirnstamm liegt er bereits vor der Geburt, im Stirnhirn wird er etwa im 6. Lebensjahr erreicht) ist die Anzahl der Nervenzellkontakte (Synapsen) so groß wie niemals wieder im späteren Leben. All jene Kontakte, die nicht „gebraucht“, also nicht durch entsprechende Nutzung und Stimulation gefestigt und stabilisiert werden, werden wieder zurückgebildet und aufgelöst.

Worauf es für eine erfolgreiche Stabilisierung hochkomplexer Verschaltungsmuster ankommt, läßt sich besonders eindringlich anhand der Herausformung des „Gesangszentrums“ im Gehirn von Singvögeln beobachten. In dieser Region entsteht ein riesiges Überangebot an Nervenzellkontakten, wenn der kleine Vogel, also beispielsweise eine Nachtigall, noch im Nest sitzt. Wenn nun der Vater in der Nähe des Nestes seine bezaubernd vielfältigen Lieder singt, entstehen im Gesangszentrum der Jungvögel entsprechend komplexe Aktivierungsmuster. Je komplizierter der Gesang, desto komplexer werden diese Muster und um so mehr Verschaltungen und Verbindungen können dann auch „benutzt“ und stabilisiert werden. Wenn der Nachtigallenhahn keine Lust zum Singen hat, vertrieben oder gar tot geschossen wird, so kann im Gesangszentrum seiner Jungen auch kein so kompliziertes Netzwerk von Verbindungen stabilisiert werden. Dann geht der größte Teil der „synaptischen Angebote“ zugrunde und mit dem, was übrig bleibt, wird im nächsten Jahr kaum noch ein Sängerstreit um eine hübsche Nachtigallenbraut zu gewinnen sein. „Nutzungsabhängige Stabilisierung synaptischer Netzwerke“ heißt das, was nicht nur im Gesangszentrum der Singvögel, sondern in noch viel stärkerem Maß und über noch viel längere Zeiträume im menschlichen Gehirn passiert. Die Region, in der sich während der frühen Kindheit besonders intensive Nervenzellkontakte herausbilden und darauf warten, dass sie möglichst komplex benutzt und stabilisiert werden, ist freilich nicht das Gesangszentrum, sondern die Hirnrinde, und hier ganz besonders der vordere, zuletzt ausreifende Bereich, der sogenannte Stirnlappen. Diese für unser menschliches Hirn besonders typische Region brauchen wir, wenn wir uns ein Bild von uns selbst und unserer Stellung in der Welt machen wollen (Selbstwirksamkeitskonzepte), wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Wahrnehmungen richten, Handlungen planen und die Folgen von Handlungen abschätzen (Motivation, Impulskontrolle), wenn wir uns in andere Menschen hineinversetzen und Mitgefühl entwickeln (Empathiefähigkeit, soziale und emotionale Kompetenz). Genau diese Fähigkeiten brauchen Kinder mehr als alles andere, wenn sie sich später in der Schule und im Leben zurechtfinden, lernbereit, wissensdurstig und neugierig bleiben und mit anderen gemeinsam nach brauchbaren Lösungen suchen wollen. Die für diese Fähigkeiten verantwortlichen hochkomplizierten Nervenzellverschaltungen in ihrem Hirn, und dort speziell im Frontallappen, stabilisieren sich jedoch nicht von allein. Sie müssen – wie im Gesangszentrum der kleinen Nachtigallen – durch eigene Erfahrungen anhand entsprechender Vorbilder herausgeformt und gefestigt werden.

Nachkommen übernehmen die Eigenschaften der Mutter, bei der sie aufwachsen

Erst in den letzten Jahren haben Forscher einen Weg gefunden, um herauszufinden, welche Verhaltensweisen erworben, und welche vererbt sind. Man benutzt dazu eine Technik, die als Cross-Forstering bezeichnet wird. So hat man beispielsweise unmittelbar nach der Geburt die Jungen von Rattenmüttern vertauscht, die sich bei der Aufzucht vorangegangener Würfe als entweder besonders kompetent und umsichtig, oder aber als eher inkompetent und nachlässig erwiesen hatten. Das Ergebnis war eindeutig: Um eine kompetente Rattenmutter zu werden, kommt es nicht auf die genetischen Anlagen an, sondern auf die frühen Erfahrungen. Man kann also auch von einer „schlechten“ Mutter abstammen und wird – wenn man das Glück hat, unmittelbar nach der Geburt bei einer „guten“ Mutter zu landen – selbst eine gute Rattenmutter. Um zu erfahren, ob bestimmte Verhaltensmerkmale bereits intrauterin angelegt und geprägt werden, gingen die Wissenschaftler kürzlich sogar noch einen Schritt weiter: Sie vertauschten nicht nur die Neugeborenen, sondern bereits die Embryonen von Mäusemüttern, die aus zwei Inzuchtstämmen mit unterschiedlichen Verhaltensmerkmalen stammten. Man wählte dazu Tiere einen Stammes aus, die in einer neuen Umgebung vorsichtiger sind und mehr Zeit brauchen, um sich dort zurecht zu finden. Die Tiere des anderen Stammes zeichneten sich dadurch aus, dass sie sich räumlich besser orientieren können und eine gut ausgeprägte Impulskontrolle aufweisen. Wurden nun die Embryonen unmittelbar nach der Befruchtung vertauscht, also durch Embryotransfer den weiblichen Tieren des jeweils anderen Stammes eingepflanzt, so verhielten sich die jeweiligen Tiere später, wenn sie geboren und erwachsen geworden waren, genau so, wie die Maus, die sie ausgetragen und aufgezogen hatte, und nicht so, wie die Mütter des Stammes, von denen sie eigentlich abstammten. Das scheinbar genetisch bedingte und programmierte Verhalten, in einer neuen Umgebung ängstlich zu sein, Orientierungsschwierigkeiten zu haben und schlechter zu lernen, ist also offenbar durch frühe intrauterine Erfahrungen und Entwicklungsbedingungen bestimmt. Diese Versuche haben auch gezeigt, dass es nicht reicht, wenn die Jungen nur bei dieser Mutter aufwachsen, sie müssen bereits intrauterin in dieser Mutter heranwachsen, um die Verhaltensmerkmale des neuen Stammes zu übernehmen. Angesichts dieser Befunde müssen wir uns fragen, wie viele Eigenschaften, die bisher der Macht genetischer Programme zugeschrieben worden sind, in Wirklichkeit durch frühe intrauterine Erfahrungen geprägt und angelegt werden. Bisher ist die Bedeutung dieser intrauterinen Phase für die Merkmalsausbildung wohl stark unterschätzt worden. Die Zwillingsforschung hat eine Vielzahl von phänotypischen Eigenschaften insbesondere auf der Ebene des Verhaltens gefunden, die offenbar angeboren sind. Ob sie aber auch wirklich vererbt, also genetisch weitergegeben oder durch weitgehend gleichartige intrauterine Entwicklungsbedingungen eineiiger Zwillinge nur in gleicher Weise erworben werden, läßt sich mit den Methoden der Zwillingsforschung nicht klären. Vielleicht müssen wir warten, bis die ersten Frauen sich entschließen, das eigene befruchtete Ei von einer anderen Frau austragen zu lassen. Es ist keinesfalls sicher, mit welchen Eigenschaften und Verhaltensreaktionen das betreffende Kind dann zur Welt kommt: Mit denen der biologischen Mutter, oder mit denen der jeweiligen Leihmutter.


Zusammenfassung

Die Hirnentwicklung ist ein im Vergleich zu anderen Entwicklungsprozesse im menschlichen Organismus besonders leicht von außen beeinflussbarer Prozess. Die endgültige Ausreifung komplexer Verschaltungen wird in besonderer Weise durch frühe Entwicklungsbedingungen und eigene Erfahrungen gelenkt. Frühe Erfahrungen sind bedeutsamer und bestimmen die weitere Strukturierung der plastischen Bereiche des Menschen nachhaltiger als die zu späteren Zeitpunkten gemachten Erfahrungen. Da die ersten Erfahrungen bereits vor der Geburt gemacht werden, können weitaus mehr Verhaltensmerkmale als wir bisher glauben angeboren, aber (im genetischen Sinn) nicht vererbt sein.



Literatur



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