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Gerald Huether: Destruktives Verhalten als geplante Bewätigungsstrategie zur Überwindung ......
Geschrieben am 10.09.2003 von S. Ihlenfeldt

S. Ihl schreibt:
"Destruktives Verhalten als gebahnte Bewältigungsstrategie zur Überwindung
emotionaler Verunsicherung: ein entwicklungsneurobiologisches Modell

Gerald Hüther, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Göttingen

1. Einleitung

Seit Beginn der 90er Jahre zeichnet sich in der neurobiologischen Forschung und im Verständnis zentralnervöser Verarbeitungsprozesse ein Paradigmenwechsel ab. Insbesondere der Einsatz bildgebender Verfahren hat entscheidend dazu beigetragen, die bisher an unterschiedlichsten Modellsystemen gewonnenen Erkenntnisse über die strukturellen Grundlagen spezifischer Leistungen und Fehlleistungen des menschlichen Gehirns neu zu bewerten und einzuordnen.

Das gilt für die Funktion neuronaler Netzwerke, für die Rolle globalisierender Transmittersysteme, für die Bedeutung emotionaler Aktivierungsprozesse und für die Plastizität neuronaler Verschaltungen und ihre Anpassungsfähigkeit an bestimmte mehr oder weniger einseitige Nutzungsbedingungen.

Die Informationsverarbeitung im ZNS wird heute als ein gleichzeitig seriell und parallel ablaufender Prozeß der Aktivierung bzw. Hemmung multifokaler, eng miteinander verschalteter neuronaler Netzwerke verstanden. Jedes dieser Netzwerke besitzt strukturell festgelegte Verschaltungsmuster mit anderen Netzwerken, die im Verlauf der Individualentwicklung herausgebildet werden und zeitlebens durch die Art ihrer Nutzung stabilisiert, aber auch umgeformt und überformt werden können („experience-dependent plasticity“). Von besonderer Bedeutung für die Verarbeitung und Verankerung emotionaler Erfahrungen sind die Verschaltungen zwischen den für die Entstehung emotionaler Erregungen zuständigen neuronalen Netzwerken in den ontogenetisch und phylogenetisch älteren limbischen Hirnregionen und den für kognitive Verarbeitungsprozesse zuständigen neocortikalen Netzwerken. Intensive reziproke Verschaltungen verbinden die limbischen Gebiete (cingulärer Cortex, Hypothalamus, Hippocampus und Amygdala) mit einer Vielzahl anderer Hirnstrukturen (im Hirnstamm, im Striatum, im paralimbischen und neocortikalen Regionen, Übersicht in: Carmichael und Price, 1995; Pandya und Yeterian, 1996). In Tierversuchen konnte gezeigt werden, daß diese komplexen Verschaltungen entscheidend an der Regulation motivationaler, affektiver und emotionaler Reaktion beteiligt sind (Rolls, 1990; Dias et al., 1996). Sie bilden offenbar auch beim Menschen das neurobiologische Substrat, das für die Integration äußerer und innerer Zustandsbilder verantwortlich ist und die gleichzeitige sensorische, cognitive und autonome Verarbeitung und Verankerung emotionaler Erfahrungen ermöglicht (Tucker et al., 1995; Damasio, 1996).

Die Aktivität und die Effizienz der in verschiedenen Bereichen des ZNS operierenden, lokalen Netzwerke wird durch „überregionale“ Systeme mit weitreichenden und z. T. überlappenden Projektionen beeinflußt und aufeinander abgestimmt („harmonisiert“, vgl. Übersicht in Mesulam, 1990; Spoont, 1992). Diese Systeme unterscheiden sich – aufgrund der unterschiedlichen Reichweite ihrer Projektionen – durch das Ausmaß der von ihnen erzeugten „globalisierenden“ Wirkungen sowie – aufgrund der unterschiedlichen Wirkungen der von ihnen benutzten Signalstoffe (Azetylcholin, Catecholamine, Histidin, Peptide, Serotonin) – auch hinsichtlich der von ihnen jeweils ausgelösten Effekte. Manche dieser überregionalen, harmonisierenden Transmittersysteme sind tagsüber ständig aktiv und kaum durch äußere Faktoren beeinflußbar (z. B. serotonerges System). Andere werden erst mit der Wahrnehmung neuartiger Reize aktiviert (noradrenerges und dopaminerges System). Neben ihrer Funktion als Modulatoren der in weit auseinanderliegenden lokalen Netzwerken generierten neuronalen Aktivität haben diese großen, globalen Transmittersysteme eine weitere trophische, stabilisierende Funktion: Die in den distalen Projektionsgebieten ausgeschütteten Transmitter wirken als Regulatoren der Genexpression, stimulieren die Produktion und Freisetzung von Wachstumsfaktoren durch benachbarte Astrozyten und nachgeschaltete Nervenzellen und tragen durch diese neuroplastischen Wirkungen zur Stabilisierung bzw. Bahnung der in den und zwischen den lokalen Netzwerken angelegten synaptischen Verschaltungen bei.
Sowohl die Ausformung der rezproken cortikolimbischen Verschaltungen als auch die die Ausreifung dieser globalisierenden Transmittersysteme ist während der frühkindlichen Entwicklung durch verschiedene Faktoren beeinflußbar. Eine besondere Rolle spielen hierbei psychosoziale Belastungen, die sowohl mit einer Aktivierung emotionaler limbischer Netzwerke wie auch bestimmter globalisierender Transmittersysteme einhergehen. Über die Stimulation einer neuroendokrinen Streßreaktion sind sie entscheidend an der adaptiven Modifikation und Reorganisation neuronaler Verschaltungen beteiligt sind (Hüther, 1996; Hüther, 1998).

Im Folgenden soll zunächst deutlich gemacht werden, dass die kindliche Hirnentwicklung, insbesondere die Ausformung komplexer, das Denken Fühlen und Handeln bestimmender neuronaler Verschaltungen im frontalen Cortex in weit stärkerem Maß als bisher angenommen durch frühe Erfahrungen bestimmt wird. Angst und emotionale Verunsicherung gehen mit einer Aktivierung Stress-sensitiver Systeme (limbisches System, HPA-System und catecholaminerges System) einher. Die dabei vermehrt abgegebenen Botenstoffe und Hormone führen zur Bahnung und Festigung all jener neuronalen Verschaltungsmuster, die im Verlauf einer entsprechenden Verhaltensreaktion zur Wiederherstellung des emotionalen Gleichgewichtes benutzt werden. Auf der Grundlage dieser neurobiologischen Erkenntnisse wird ein Modell zur strukturellen Verankerung früher Erfahrungen vorgestellt, das sowohl fremd- als auch selbstdestruktives Verhalten als gebahnte Bewältigungsstrategie zur Überwindung emotionaler Verunsicherung ableitbar macht. Es werden die Bedingungen untersucht, die derartige Bahnungsprozesse während der frühen Hirnentwicklung begünstigen und es wird aus entwicklungsneurobiologischer Sicht nach geeigneten Strategien zur Prävention und zur Therapie bereits gebahnter fremd- und selbstdestruktiver Verhaltensweisen gesucht.

2. Die Entwicklung des Frontalhirns als individuelle Bewertungsinstanz

Keine andere Spezies kommt mit einem derart offenen, lernfähigen und durch eigene Erfahrungen in seiner weiteren Entwicklung und strukturellen Ausreifung formbaren Gehirn zur Welt wie der Mensch. Nirgendwo im Tierreich sind die Nachkommen beim Erlernen dessen, was für ihr Überleben wichtig ist, so sehr und über einen vergleichbar langen Zeitraum auf Fürsorge und Schutz, Unterstützung und Lenkung durch die Erwachsenen angewiesen, und bei keiner anderen Art ist die Hirnentwicklung in solch hohem Ausmaß von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz dieser erwachsenen Bezugspersonen abhängig wie beim Menschen. Da diese Fähigkeiten bei den Erwachsenen, die für die Gestaltung der Entwicklungsbedingungen eines Kindes maßgeblich sind, unterschiedlich gut entwickelt sind, können die genetischen Potenzen zur Ausformung hochkomplexer, vielseitig vernetzter Verschaltungen im Gehirn der betreffenden Kinder nicht immer in vollem Umfang entfaltet werden. Die Auswirkungen suboptimaler Entwicklungsbedingungen werden allerdings meist erst dann sichtbar, wenn die heranwachsenden Kinder Gelegenheit bekommen, ihre emotionale, soziale und intellektuelle Kompetenz unter Beweis zu stellen, z. B. bei der Lösung innerer oder äußerer Konflikte.

Sogar bei Ratten ist inzwischen empirisch nachgewiesen worden, dass Defizite in der „Erziehung“ über Generationen weitergegeben werden (Frances und Meaney, 1999). Der Versuch, diese recht eindeutigen tierexperimentellen Befunde auf den Menschen zu übertragen, stößt gegenwärtig jedoch noch immer auf erhebliche Akzeptanzprobleme. Die Ablehnung kann als Indiz dafür verstanden werden, dass die tatsächliche Tragweite der Folgerungen zumindest erahnt wird, die sich aus derartigen Erkenntnissen ergeben. In der Vergangenheit ließen sich deterministische Vorstellungen einer primär durch genetische Programme gesteuerten Hirnentwicklung wesentlich erfolgreicher verbreiten und im Bewusstsein ganzer Bevölkerungsschichten verankern und sind zu tragenden Säulen medizinischer, biologischer, psychologischer und sogar soziologischer Theoriegebäude geworden (Rutter, 2002).

Mit Hilfe ihrer genetischen Programme sind Nervenzellen jedoch lediglich in der Lage sich zu teilen, solange die äußeren Bedingungen (das lokale Mikroenvironment) dafür günstig sind, entlang bestimmter Signalstoffgradienten zu wandern, Fortsätze auszuwachsen, und synaptische Verbindungen herzustellen. Es handelt sich also um ein Programm von Optionen, das festlegt, was unter gewissen Bedingungen möglich ist und was zu geschehen hat, wenn sich diese Gegebenheiten ändern, entweder als zwangsläufige Folge der eigenen Wachstumsdynamik (Gradienten von Nährstoffen, Metaboliten, Signalstoffen, Adhäsionsmolekülen etc.) oder durch äußere Faktoren (sensorische Eingänge, äußere Störungen des inneren Bedingungsgefüges). Jede Veränderung der äußeren Welt, die stark genug ist, um das in der „Innenwelt“ des sich entwickelnden Gehirn herrschende Bedingungsgefüge zu verschieben, kann daher die dort stattfindenden Wachstums- und Differenzierungsprozesse in eine bestimmte (ohne diese Störung nicht oder noch nicht eingeschlagene) Richtung lenken.
Weil das sich entwickelnde Gehirn kein Programm besitzt, das darüber bestimmt, welche Nervenzellverschaltungen und synaptischen Verbindungen in welcher Weise auszuformen und miteinander zu verknüpfen sind, wird in allen Regionen zunächst ein enormer Überschuss an Nervenzellen, Fortsätzen und Synapsen produziert. Erhalten bleiben im weiteren Verlauf des Reifungsprozesses davon jedoch nur diejenigen Nervenzellen, Fortsätze und Synapsen, die funktionell genutzt, d. h. in größere funktionelle Netzwerke integriert und auf diese Weise stabilisiert werden können (Singer, 1995). Der Rest wird wieder abgebaut (nutzungsabhängige Strukturierung). Dieser Prozess verläuft in einer charakteristischen zeitlichen Abfolge, wie etwa die Schließung des Neuralrohres von kaudal beginnend (Rückenmark) über Stammhirn, Mittelhirn (Thalamus, Hypothalamus, limbisches System) zum Vorderhirn. In den älteren Bereichen ist diese nutzungsabhängige Strukturierung zum Zeitpunkt der Geburt weitgehend abgeschlossen, in jüngeren Bereichen sind die wichtigsten Neuronenverbände und Verschaltungsmuster ebenfalls bereits ausgeformt. Die Nervenzellproliferation ist beendet (bis auf ein kleines Areal im Gyrus dentatus des Hippocampus), die entsprechenden Kerngebiete bzw. Zellschichten sind angelegt. In den jüngeren Regionen werden noch lange nach der Geburt intensiv Gliazellen produziert und Myelinscheiden geformt. Vor allem im Cortex sind das Auswachsen von Dendriten und Axonen und die Synapsenbildung noch in vollem Gange. In der jüngsten Hirnregion, dem frontalen Cortex, wird das Maximum der synaptischen Dichte erst im zweiten Lebensjahr erreicht.

Während seiner frühkindlichen Entwicklung lernt jedes Kind, sein Gehirn auf eine bestimmte Weise zu benutzen, indem es dazu angehalten, ermutigt oder auch gezwungen wird, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten stärker zu entwickeln als andere, auf bestimmte Dinge stärker zu achten als auf andere, bestimmte Gefühle eher zuzulassen als andere, also sein Gehirn allmählich so einzusetzen, dass es sich damit in der Gemeinschaft zurecht findet, in die es hineinwächst. Die Hirnregion, in der die dafür zuständigen komplexen, nutzungsabhängigen neuronalen Verschaltungen letztendlich geformt werden, ist der frontale (präfrontale und orbifrontale) Cortex. Dieser Teil des Gehirns entwickelt sich beim Menschen zuletzt und am langsamsten und ist auch bei unseren nächsten tierischen Verwandten weitaus kümmerlicher ausgebildet. Dieser Frontal- oder Stirnlappen ist diejenige Hirnregion, die in besonderer Weise daran beteiligt ist, aus anderen Bereichen des Gehirns eintreffende Erregungsmuster zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und auf diese Weise von „unten“, aus tiefer liegenden und früher ausgereiften Hirnregionen eintreffende Erregungen und Impulse zu hemmen und zu steuern. Ohne Frontalhirn kann man keine zukunftsorientierten Handlungskonzepte und inneren Orientierungen entwickeln, kann man nichts planen, kann man die Folgen von Handlungen nicht abschätzen, kann man sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle teilen, auch kein Verantwortungsgefühl empfinden. Das Frontalhirn ist also diejenige Hirnregion, in der wir uns am deutlichsten von allen Tieren unterscheiden. Und es ist auch diejenige Hirnregion, die durch die Art der individuellen Nutzung des Gehirns in ihrer Feinstrukturierung am stärksten beeinflußt und damit „programmiert“ wird. Das Ausmaß und die Art der Vernetzung neuronaler Verschaltungen, insbesondere im frontalen Kortex, hängen also ganz entscheidend davon ab, womit sich Kinder und Jugendliche besonders intensiv beschäftigen, zu welcher Art der Nutzung ihres Gehirns sie im Verlauf des Erziehungs- und Sozialisationsprozesses angeregt werden. Konsequenterweise muss dann zumindest dieser Bereich des menschlichen Gehirns als soziales Produkt angesehen werden. (Hüther, 1996).
Die hochkomplexen Verschaltungsmuster innerhalb des Frontalhirns wie auch zwischen dem Frontalhirn und den anderen Bereichen der Hirnrinde und den tiefer liegenden, sog. subkortikalen Netzwerken können nur dann ausgebildet werden, wenn Kindern bereits im Säuglingsalter vielfältige Gelegenheiten geboten werden, sich selbst und ihre Wirkungen auf andere Menschen wahrzunehmen.

3. Die Bahnung einseitiger Verhaltensstrategien durch emotionale Verunsicherung, Stress, Angst

Die notwendige Offenheit des sich entwickelnden Gehirns für strukturierende Einflüsse aus der äußeren Welt hat zwangsläufig zur Folge, dass es auch Einflüssen ausgesetzt werden kann, die die Integrität seiner inneren Struktur und Organisation bedrohen. Die genetischen Programme, die die Ausformung eines so offenen und daher enorm störbaren Hirns ermöglichen, konnten nur unter der Voraussetzung entstehen und im Genpool des Menschen verankert werden, dass derartige Störungen so gut wie nie vorkamen. Hand in Hand mit der Öffnung der anfangs noch recht starren genetischen Programmierung der Hirnentwicklung mussten im Lauf der Evolution also immer effizientere Mechanismen zum Schutz des sich entwickelnden Hirns vor äußeren Störungen entwickelt werden. Neben den bereits bei den Säugetieren „erfundenen“ Schutz der Nachkommen durch Verlagerung der störanfälligsten Entwicklungsschritte in den Mutterleib, wurden bei den Primaten und insbesondere beim Menschen Sicherheit bietende Bindungen zur entscheidenden Voraussetzung für die Ausbildung lernfähiger, plastischer Gehirne (Hüther, 2000).
Nichts erzeugt nun soviel unspezifische Erregung im Hirn (und vor allem in den emotionalen Zentren) eines Kleinkindes wie das plötzliche Verschwinden der Mutter. Offenbar ist der Verlust der bis dahin vorhandenen, Sicherheit bietenden Bezugsperson die bedrohlichste und massivste Störung, die das sich entwickelnde Gehirn treffen kann .

In den jüngeren Bereichen des Gehirns wird der Prozess der nutzungsabhängigen Strukturierung (Bildung und Elimination überschüssiger synaptischer Verschaltungen) zunehmend durch die individuell vorgefundenen äußeren Nutzungsbedingungen (familiäres und soziales Umfeld, Anregungen, Forderungen, Erziehung und Sozialisation) und den unter diesen Bedingungen jetzt gemachten oder von nahestehenden Bezugspersonen übernommenen Erfahrungen bestimmt. Die strukturelle Verankerung von Erfahrungen ist eng an die Aktivierung emotionaler, limbischer Hirnregionen geknüpft. Zu einer Aktivierung dieser Bereiche kommt es immer dann, wenn etwas Neues, Unerwartetes wahrgenommen wird. Das kann entweder als Bedrohung (Angst) oder als Belohnung (Freude) empfunden werden. Die damit einhergehende Aktivierung limbischer Zentren führt zu einer vermehrten Ausschüttung einer ganzen Reihe von Signalstoffen mit trophischen, neuroplastischen Wirkungen (Transmitter, Mediatoren, Hormone) in den höheren assoziativen kortikalen Regionen. Unter dem Einfluss dieser Signalstoffe (z. B. Katecholamine, Neuropeptide), die die Bildung und Bahnung synaptischer Verschaltungen stimulieren, kommt es zur Festigung und Stabilisierung insbesondere all jener Nervenzellverschaltungen, die im Verlauf der emotionalen Aktivierung besonders intensiv genutzt werden (strukturelle Verankerung positiver oder negativer Erfahrungen, „emotionales Gedächtnis“ für erfolgreiche oder erfolglose Bewältigungsstrategien, Hüther, 2000). Offenbar gibt es einen Grad „optimaler“ Stimulation emotionaler Zentren, der die Herausbildung und Stabilisierung hochkomplexer Verschaltungsmuster im Cortex fördert (und dort in der am stärksten vernetzten und durch eigene Erfahrungen am meisten formbare Region, dem präfrontalen und orbifrontalen Cortex der rechten Hemisphäre). Steigt die emotionale Aktivierung weiter an (Angst, Stress), so kommt es zu einer eskalierenden, unspezifischen Erregung in den höheren, assoziativen Bereichen (Verwirrung, Ratlosigkeit). Gebahnt und stabilisiert werden unter diesen Bedingungen die zur Bewältigung dann aktivierten, weniger komplexen, älteren und bereits „bewährten“ Verschaltungen. Wird die Aktivierung der emotionalen Zentren überstark und lässt sie sich nicht durch den Rückgriff auf eine geeignete Bewältigungsstrategie abstellen (langanhaltende, unkontrollierbare Angst- und Stressreaktion), so reagiert das Gehirn mit der Aktivierung einer archaischen, sehr früh angelegten und von tiefer liegenden, subcorticalen Bereichen gesteuerten „Notfallreaktion“ (Erstarrung, Hilflosigkeit). Gleichzeitig kommt es zu einer ausgeprägten, langanhaltenden Stimulation der (für die körperliche Bewältigung derartiger Notfälle zuständigen) HPA-Achse. Die damit einhergehende Überflutung des Hirns mit Cortisol begünstigt die Destabilisierung und Regression bereits entstandener und gebahnter neuronaler Verschaltungen in all jenen Bereichen des Gehirns, die eine besonders hohe Dichte an Cortisolrezeptoren aufweisen (Hippocampus, limbischer und präfrontaler Cortex) und die gleichzeitig durch massive exzitatorische Eingänge (Glutamat) überstark erregt werden (Gunnar 1998).

Zu langanhaltenden Aktivierungen der HPA-Achse und zu langfristigen Erhöhungen zirkulierender Glucocorticoidspiegel kommt es immer dann, wenn sich eine Belastung als unkontrollierbar erweist, d. h. wenn keine der vorhandenen Verhaltens- (incl. Verdrängungs-) strategien auch nur ansatzweise geeignet ist, das ursprüngliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Bei Versuchstieren beobachtet man unter diesen Bedingungen ein Phänomen, das "behavioral inhibition" genannt wird. Die wiederholte Konfrontation mit verschiedenen unkontrollierbaren Stressoren führt zu einem Zustand von "learned helplessness" und dient als Tiermodell für depressive Erkrankungen (Katz et al., 1991).

Gegenüber diesen unkontollierbaren Streßbelastungen zeichnen sich kontrollierbare Belastungen dadurch aus, daß zwar Verhaltens- (incl. Verdrängungs-) Strategien zur Vermeidung oder Beseitigung des Stressors verfügbar sind, die Effizienz der vorhandenen Kompensations- und Regelmechanismen jedoch (noch) nicht ausreicht, um die Aktivierung einer neuroendokrinen Streßreaktion zu verhindern. Unter diesen Bedingungen kommt es zu einer präferentiellen Aktivierung des zentralen noradrenergen und des peripheren SAM-Systems und (wenn überhaupt) nur zu einer kurzzeitigen Stimulation der HPA-Achse (Hüther, 1996; Hüther et al. 1996).

Vieles spricht dafür, daß die an Versuchstieren gewonnenen Vorstellungen über die Mechanismen der zentralnervösen Aktivierung der neuroendokrinen Streßantwort in ihren Grundzügen auch für den Menschen gelten. Die Besonderheiten der Streßreaktion beim Menschen ergeben sich aus der enormen Ausdehnung des assoziativen Cortex und der daraus resultierenden Fähigkeit zur langfristigen Speicherung äußerst komplexer Gedächtnisinhalte, zur Bewertung und Kontrolle von Emotionen und zur Steuerung situationsgerechten Verhaltens. Wichtige, die Streßantwort bestimmende Faktoren, die von der tierexperimentellen Streßforschung erst in den letzten Jahren erkannt wurden, etwa die Bedeutung der Vorerfahrung eines Individuums mit einem bestimmten Stressor, das Ausmaß der von einem Individuum empfundenen Kontrollierbarkeit eines Stressors, oder der Einfluß von sozialen Faktoren („social support“, „social status“) auf die Streßantwort spielen beim Menschen eine weitaus größere Rolle als bei Versuchstieren und sind entscheidend für die enorme interindividuelle Varianz seiner Streßantwort. Eine Frage, mit der sich die experimentelle Streßforschung bisher kaum beschäftigt hat, ist die nach den normalen Auslösern und der Häufigkeit der Aktivierung der Streßreaktion unter den jeweiligen, artspezifischen Lebensbedingungen. Bei allen sozial organisierten Säugetieren und insbesondere beim Menschen ist psychosozialer Konflikt die wichtigste und häufigste Ursache für die Aktivierung der Streßreaktion. Vor allem unkontrollierbarer Streß spielt im Leben des Menschen eine besondere Rolle. Besonders exponiert sind Individuen mit einem unzureichend entwickelten Repertoire an sozialen Verhaltens-(Coping-)Strategien. Aber auch rasche, unerwartete Veränderungen des sozialen Rahmens, für den erfolgreiche Coping-Strategien entwickelt wurden, etwa Veränderungen des sozialen Beziehungsgefüges durch Verlust eines Partners oder durch einen raschen Wandel kultureller und sozialer Normen sind Ursachen für unkontrollierbare Belastungen der betroffenen Personen. Eine weitere häufige Ursache für unkontrollierbaren Streß ist die Unerreichbarkeit von vorgestellten Zielen und die Unerfüllbarkeit von als zwingend empfundenen Bedürfnissen und Wünschen innerhalb des gegebenen soziokulturellen Kontexts. Ebenso wie ein Defizit an relevanter Information die Ursache für inadäquates Verhalten und damit psychosozialen Streß darstellt, kann auch ein Informationsüberschuß zu Handlungsunfähigkeit und damit einhergehenden unkontrollierbaren Streßbelastungen führen, weil es nicht gelingt, die vorhandenen Informationen hinsichtlich ihrer aktuellen Relevanz zu klassifizieren. Schließlich ist nur der Mensch aufgrund seiner assoziativen Fähigkeiten in der Lage, sich ein Szenario vorzustellen, das eine Streßbelastung nicht nur beinhaltet, sondern die entsprechende neuroendokrine Reaktion tatsächlich auslöst. Da das furchterregende Szenario nur in der Vorstellungswelt existiert, ist keine adäquate Reaktion möglich und eine unkontrollierbare Streßreaktion unausweichlich.

Die Aneignung neuer Bewertungs- und Bewältigungsstrategien, grundlegende Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln werden durch die vorangehende Destabilisierung und Auslöschung unbrauchbar gewordener Muster erst ermöglicht. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß vor allem Umbruchphasen wie die Pubertät, die zu psychosozialen Neuorientierungen zwingen, besonders häufig mit langanhaltenden, unkontrollierbaren psychischen Belastungen einhergehen. Damit tragen beide Arten von Streßreaktionen, also die kontrollierbaren Herausforderungen wie auch die unkontrollierbaren Belastungen, in jeweils spezifischer Art und Weise, zur Strukturierung des Gehirns, d. h. zur Selbstorganisation neuronaler Verschaltungsmuster im Rahmen der jeweils vorgefundenen äußeren, psychosozialen Bedingungen bei: Erfolgreich bewältigte Herausforderungen fördern die Spezialisierung und verbessern die Effizienz bereits bestehender Verschaltungen. Sie sind damit wesentlich an der Weiterentwicklung und Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale und Coping-Stile beteiligt. Schwere, unkontrollierbare Belastungen ermöglichen durch die Destabiliserung einmal entwickelter, aber unbrauchbar gewordener Verschaltungen die Neuorientierung und Reorganisation von bisherigen Verhaltensmustern.

Die von unkontrollierbaren Belastungen getriggerten langanhaltenden neuroendokrinen Reaktionen können offenbar über die von ihnen ausgelöste Destabilisierung neuronaler Verschaltungsmustern in limbischen und kortikalen Hirnregionen u. U. sehr grundsätzlichen Veränderungen des Denkens, Fühlens und Handelns einer Person zur Folge haben. Das Ersetzen eines alten, unter dem Einfluß bisheriger Anforderungen stabilisierten assoziativen Verschaltungsmusters durch ein neues kann dazu führen, daß bisher unkontrollierbare psychosoziale Konflikte kontrollierbar werden. Ein derartiger Reorganisationsprozeß ist jedoch immer mit dem Risiko der Entgleisung und des unkompensierbaren Verlustes bestimmter Fähigkeiten im Bereich des Denkens, Fühlens oder Handelns behaftet (Hüther et al., 1999, Hüther, 1997).

4. Fremd- und selbstdestruktives Verhalten als gebahnte Bewältigungsstrategie

Nicht nur das Fühlen, Denken und Handeln, sondern auch die diesen Reaktionen zugrundeliegenden neuronalen Verschaltungen werden ganz entscheidend durch die Erfahrungen geprägt, die ein Heranwachsender in seinen Beziehungen zu anderen Menschen und der ihn umgebenden Welt macht. Die engsten Beziehungen entwickeln Kinder zu anderen Menschen immer dann, wenn sie in dieser Beziehung Sicherheit und Geborgenheit, Mut, Selbstvertrauen und Zuversicht finden, wenn ihnen diese Beziehung also hilft, ihr emotionales Gleichgewicht zu finden und zu bewahren. Geht ihnen diese psychosoziale Unterstützung verloren, so verlieren sie auch diese emotionale Balance. Das Gehirn reagiert auf diese Störung ebenso wie auf jede andere Störung, nämlich mit der Aktivierung einer Notfallreaktion, die dazu beitragen soll, entweder das alte Gleichgewicht wiederherzustellen oder – wenn das nicht geht – ein neues zu finden. Wird die aufgetretene Störung des emotionalen Gleichgewichtes als kontrollierbar bewertet, so kommt es nur zu einer kurzzeitigen Aktivierung neuronaler und neuroendokriner Systeme. Sie hat einen stabilisierenden und bahnenden Einfluß auf die zur Angstbewältigung erfolgreich eingesetzten neuronalen Verschaltungen.

Die Gefahr der Bahnung sehr einseitiger, das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen bestimmender neuronaler Verschaltungsmuster ist um so größer, je häufiger ganz bestimmte Strategien der Angstbewältigung von einem Menschen im Lauf seiner Entwicklung immer wieder eingesetzt und subjektiv als besonders erfolgreich bewertet werden. Beispiele für derartige bis zur psychischen Abhängigkeit gebahnte Bewältigungsstrategien sind Karrieresucht, Erfolgssucht, Geltungssucht, Streitsucht, Prunksucht, Vergnügungs-(Ablenkungs)sucht, Spiel-(Aufregungs-)sucht etc. Häufig werden auch bestimmte, durch die Nahrungsaufnahme ausgelöste zentralnervöse Effekte zur Angstbewältigung genutzt und bis zur Abhängigkeit gebahnt (Eßsucht, Magersucht). Das gleiche gilt für Drogen und Medikamente, die aufgrund ihrer anxiolytischen, sedierenden oder euphorisierenden Wirkungen zur Angstbewältigung eingesetzt werden können (Medikamentensucht, Drogensucht). Auch die Bereitschaft, Angst und Unsicherheit durch die Ausübung von Gewalt zu bewältigen, wird, je häufiger das gelingt, um so effizienter gebahnt und ist immer leichter aktivierbar.

Je beschränkter das Spektrum an Bewältigungsstrategien ist, das sich eine Person im Laufe ihres bisherigen Lebens anzueignen imstande war, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns angesichts neuartiger psychosozialer Konflikte und seelischer Belastungen. Solche Menschen sind oft außerstande, adäquate Lösungsstrategien für neuartige Herausforderungen zu finden und neigen aus diesem Grunde dazu, ihre Ängste und die damit einhergehende unkontrollierbare Streßreaktion durch Rückgriff auf ältere, bereits bewährte, Bewältigungsstrategien kontrollierbar zu machen. Bei manchen Personen kommt es zu mehr oder weniger deutlichen Rückzugsversuchen in eigene, selbstgeschaffene Welten, die deshalb Sicherheit bieten, weil sie bestimmte Aspekte früh gebahnter, und noch immer als erfolgreich bewerteter Lösungsstrategien beinhalten. Andere Personen neigen in solchen Konfliktsituationen zu aktiven, nach außen gerichteten Lösungsversuchen, zum Rückgriff auf alte, subjektiv als erfolgreich bewertete Strategien, etwa Zurschaustellung von Statussymbolen (Angeberei), zur Zusammenrottung mit Gleichgesinnten, zur Aneignung von Macht oder zur Ausübung von Gewalt.

Die Chancen, eine unkontrollierbare Angst- und Streßreaktion mit Hilfe einer dieser früher einmal gebahnten und nun unbewußt aktivierten Bewältigungsstrategien tatsächlich kontrollierbar machen zu können, sind jedoch normalerweise nur sehr gering. Aus diesem Grund versuchen viele Menschen angesichts unbewältigbarer, Probleme ganz bestimmte Situationen herbeizuführen, die sie mit Hilfe ihrer „alten“ Bewältigungsstrategien kontrollieren können. Welche konkreten Situationen eine bestimmte Person durch ihr eigenes Verhalten heraufbeschwört, um sich selbst immer wieder zu bestätigen, ist von ihren bisher bei der Bewältigung von Angst und Streß gemachten Erfahrungen abhängig. Manche Menschen inszenieren Situationen, in denen sie die Hilfsbereitschaft anderer wecken, andere verfolgen mit ihren Inszenierungen das Ziel, ganz bestimmte eigene Kompetenzen erneut unter Beweis stellen zu können. Manche versuchen aber auch, sich selbst mit Hilfe solcher Inszenierungen immer wieder zu beweisen, daß es ihnen nichts ausmacht und daß sie damit umgehen können, daß es also für sie kontrollierbar ist, von liebgewonnenen, Sicherheit bietenden Bezugspersonen abgelehnt zu werden oder erneute Bestätigungen ihrer eigenen Inkompetenz zu erfahren. Diese Verhaltensweisen können schließlich, je häufiger sie von einer Person zur Angstbewältigung eingesetzt und subjektiv als erfolgreich bewertet werden, bis zur Abhängigkeit gebahnt und in zwanghafter Weise immer dann eingesetzt werden, wenn sich die betreffende Person bedroht fühlt und verunsichert wird. Das gilt auch und ganz besonders für Gewalttäter.

Gewalttäter erzeugen Opfer. Sie stürzen andere Menschen in eine Situation, die in krassem Widerspruch zu all ihren bisher erworbenen Erfahrungen steht und an der sie mit all ihren bisher angeeigneten und bisher erfolgreich eingesetzten Bewältigungsstrategien scheitern können. Sie stellt den Extremfall einer unkontrollierbaren Belastung dar, den ein Mensch erleben kann. Besonders häufig tritt sie bei Opfern sexueller Übergriffe, bei gewaltsam Vertriebenen und bei Opfern körperlicher oder seelischer Mißhandlungen auf.

Wenn es einem Menschen nach einer solchen traumatischen Erfahrung nicht gelingt, diese unkontrollierbare Streßreaktion irgendwie anzuhalten, so ist er verloren, denn die dadurch ausgelösten Destabilisierungsprozesse können lebensbedrohliche Ausmaße annehmen. Jeder traumatisierte Mensch spürt das, und er wird deshalb mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, die traumatische Erfahrung und die posttraumatisch immer wieder aufflammenden Erinnerungen an das erlebte Trauma unter Kontrolle zu bringen. Bewährte Strategien, die er - so wie andere Menschen - bisher zur Bewältigung seiner Ängste eingesetzt hat, wurden angesichts des erlebten Traumas ad absurdum geführt. Auf psychosoziale Unterstützung kann er sich nicht mehr verlassen. Der Glaube an eine helfende, göttliche Macht ist ihm ebenso verlorengegangen wie der Glaube an seine eigene Kraft. All sein bisher angeeignetes Wissen und Können haben sich als nutzlos erwiesen. Die einzige Strategie, die ihm nun noch Linderung verschaffen kann, ist die Flucht aus dieser Welt der Grausamkeiten und der grausamen Erinnerungen. Diese Flucht vollzieht er entweder physisch, indem er den Ort der Grausamkeiten verläßt, oder psychisch, indem er die traumatischen Erfahrung aus seinem Erinnerungsschatz auszuklammern versucht. Falls eine dieser Fluchten gelingt und er eine Strategie findet, die es ihm ermöglicht, die traumatische Erinnerung und die damit einhergehende unkontrollierbare Streßreaktion kontrollierbar zu machen, hört der Destabilisierungsprozeß auf, und es werden nun all die neuronalen Verschaltungen gefestigt und gebahnt, die zur „erfolgreichen“ Bewältigung seiner, durch die traumatischen Erinnerung ausgelösten Ängste aktiviert werden. Eine dieser Bewältigungsstrategien ist selbstverletzendes, selbstdestruktives Verhalten.

Gefunden werden diese Lösungen mehr oder weniger rasch und meist intuitiv, aber bis die dabei benutzten Verschaltungen hinreichend effektiv gebahnt sind, können Monate und Jahre vergehen. Die bei „psychischen Fluchten“ ablaufenden Bahnungsprozesse können so tiefgreifend und weitreichend werden, daß bei manchen Personen die Erinnerung an das traumatische Erlebnis schließlich nicht mehr abrufbar ist. Bei manchen wird die gesamte emotionale Reaktionsfähigkeit und damit auch die basale Aktivität und die Aktivierbarkeit der HPA-Achse permanent unterdrückt. Bei manchen können bizarr anmutende oder gar selbstgefährdende Bewältigungsstrategien bis zur Zwanghaftigkeit gebahnt werden. Immer ist es die subjektive Erfolgsbewertung einer zunächst meist unbewußt gefundenen Strategie, die zur Aktivierung einer nunmehr kontrollierbaren Streßreaktion und damit zur Bahnung der dabei benutzten Verschaltungen führt. Zwangsläufig sind all diese gebahnten Abwehrstrategien daher individuelle Lösungen, die sich deutlich von den „normalen“ Bewältigungsstrategien nicht traumatisierter Menschen unterscheiden. Damit geraten solche traumatisierten Menschen in ein „soziales Abseits“ und werden oft als persönlichkeitsgestört oder antisozial attributiert. So schließt sich ein fataler circulus vitiosus, aus dem der Betroffene aus eigener Kraft nicht mehr herausfindet.

5. Präventive und therapeutische Ansätze zur Vermeidung selbst- und fremddestruktiver Entwicklungen

Selbst- oder fremddestruktives Verhalten, das in der hier beschriebenen Weise erst einmal in Form bestimmter synaptischer und neuronaler Verschaltungen gebahnt wurde, ist um so schwerer korrigierbar, je früher es entstanden, je länger es bereits erfolgreich zur Überwindung emotionaler Unruhezustände eingesetzt und je höher es subjektiv als „erfolgreich“ bewertet worden ist. Je früher diese Verhaltensweisen während der Kindheit entstanden sind und gebahnt wurden, desto stärker ist dadurch die Aneignung und Stabilisierung anderer, komplexerer Strategien zur Bewältigung innerer und äußerer Konflikte behindert werden. Vielseitige, Sicherheit-bietende Kompetenzen (Selbstvertrauen) fehlen diesen Kindern meist ebenso wie Vertrauen in andere Sicherheit-bietende Bezugspersonen und Vertrauen in die eigne Person überspannende Sicherheit-bietende innere Leitbilder und Orientierungen. Komplexe Frontalhirnfunktionen und die diese Funktionen zugrunde liegenden Verschaltungen sind nur unzureichend entwickelt (defizitäre Impulskontrolle, mangelnde Handlungsplanung, fehlende soziale Kompetenz und Empathiefähigkeit, Defizite der Motivierbarkeit und der Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsfokussierung). Je älter der betreffende Jugendliche bereits geworden ist, desto schwerer sind all diese Defizite später noch kompensierbar. Die entscheidende Voraussetzung für eine gelingende Therapie ist die Fähigkeit des Therapeuten, ein Gefühl der emotionalen Sicherheit für den betreffenden Jugendlichen zu schaffen, das ihm die Aneignung komplexerer Bewertungs- und Bewältigungsstrategien und die Stabilisierung der dabei aktivierten frontokortikalen neuronalen Netzwerke ermöglicht. Diese Neubildungs- und Stabilisierungsprozesse können nur gelingen, wenn sie durch wiederholte eigene, entsprechend positiv bewertete und hinreichend komplexe Erfahrungen (Kompetenz und Selbstwirksamkeitserfahren, Bindungserfahrungen, Orientierungserfahrungen) geprägt werden. Gleichzeitig müssen Rückfälle in die alten, gebahnten destruktiven Bewältigungsstrategien vermieden werden, oder es muß zumindest erreicht werden, dass der Betreffende diese Verhaltensweisen nicht weiter als „erfolgreich“ zur Lösung innerer oder äußerer Konflikte bewertet (andere Vorbilder, neue innere Leitbilder).

Etwas leichter gestaltet sich die Therapie selbst- und fremddestruktiver Verhaltensweisen bei Patienten, die diese Bewältigungsstrategien erst relativ spät „entdeckt“ haben und bei denen weniger gravierende Frontalhirndefizite entstanden sind. Ausschlaggebend für die Bahnung der diesen Verhaltensweisen zugrunde liegenden neuronalen Verschaltungsmuster dürfte hier eine überstarke positive Bewertung der betreffenden selbst- oder fremddestruktiven Verhaltensweisen gewesen sein (starke emotionale Erregungen und besonders mächtige und wirksame Vorbilder bzw. Lösungsstrategien). Ziel der therapeutischen Bemühungen müßte es in diesen Fällen sein, die bisherige positive Bewertung der betreffenden destruktiven Strategien in Frage zu stellen und aufzulösen.

Erfahrungen von Gewalt, Angst vor Gewalt und der Versuch Gewalt abzuwehren oder vor Gewalt zu fliehen auf Seiten der Opfer und die Vorbereitung, der Einsatz und die Verbreitung von Mitteln und Strategien der Gewaltanwendung sowie von Ideologien zur Rechtfertigung von Gewalt auf Seiten der Täter sind zu einem Grundproblem moderner Gesellschaften geworden und prägen unsere gegenwärtige politische und soziale Struktur. Nicht erfüllt hat sich die seit der Aufklärung gehegte Hoffnung, die Gewaltspirale durch eine systematische Trennung zwischen legitimer Kriegsgewalt, staatlicher und familiärer Herrschaftsgewalt einerseits und Kriegsgreueln, Verbrechen sowie Unterdrückung andererseits anhalten zu können. Zunehmend rücken daher nun endlich die Opfer von Gewalt sowie die für die Entstehung von Gewalt verantwortlichen Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Transferprozesse in den Mittelpunkt des Interesses. Immer deutlicher wird Gewalt inzwischen als Manifestation von tiefer liegenden, verborgenen Störungen gesellschaftlicher Beziehungen verstanden und als sichtbares Signal für unsichtbare Störungen des sozialen Beziehungsgefuges betrachtet. Ebenso wie das Auftreten bestimmter Symptome auf eine tieferliegende Erkrankung des Organismus hindeutet, ist das Auftreten und die Ausbreitung von Gewalt als Ausdruck einer tieferliegenden Störung der Gesellschaft zu bewerten.

Die Therapie von destruktiven Verhaltensweisen Einzelner wird daher auch in Zukunft nur erfolgreich sein, wenn sie auch an den dieser Gewalt zugrundeliegenden gesellschaftlichen Ursachen ansetzt.

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Sachbücher zum Weiterlesen:

1. G. Hüther: Biologie der Angst, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 1997.
2. G. Hüther: Die Evolution der Liebe, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1999.
3. G. Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2001.
4. K. Gebauer, G. Hüther: Kinder brauchen Wurzeln, Walter Verlag Düsseldorf, 2001.
5. K. Gebauer, G. Hüther: Kinder suchen Orientierung, Walter Verlag Düsseldorf, 2002.
6. G. Hüther, H. Bonney: Neues vom Zappelphilipp. Walter Verlag Düsseldorf, 2002.


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