Woher kommt die Lust am Lernen?
Datum: Friday, 28. May
Thema: Hirnforschung/ Neurobiologie


Neurobiologische Grundlagen intrensisch und extrinsisch motivierter Lernprozesse

Gerald Hüther, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Göttingen

1. Zum Lernen braucht man kein Gehirn....

......jedenfalls nicht unbedingt. Wenn man unter „lernen“ die Fähigkeit eines Lebewesens versteht, seine innere Organisation, also das in seinem Inneren aufgebaute Beziehungsgefüge unter bestimmten Umständen zu verändern und an erneute Erfordernisse anzupassen, dann sind alle Lebewesen „lernfähige Systeme“.

Neurobiologische Grundlagen intrensisch und extrinsisch motivierter Lernprozesse

Gerald Hüther, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Göttingen

1. Zum Lernen braucht man kein Gehirn....

......jedenfalls nicht unbedingt. Wenn man unter „lernen“ die Fähigkeit eines Lebewesens versteht, seine innere Organisation, also das in seinem Inneren aufgebaute Beziehungsgefüge unter bestimmten Umständen zu verändern und an erneute Erfordernisse anzupassen, dann sind alle Lebewesen „lernfähige Systeme“. Immer dann, wenn ein derartiger Anpassungsprozess dazu führt, dass das betreffende Lebewesen eine eingetretene Bedrohung besser abwenden oder eine verfügbar gewordene Ressource besser nutzen kann als bisher, so hat es etwas „hinzugelernt“. Diese Art von „Lernfähigkeit“ ist also bereits bei Einzellern – wenngleich in noch sehr begrenztem Umfang – nachweisbar, beispielsweise wenn sie ihren Stoffwechsel und die Expression bestimmter Gensequenzen für die Bereitstellung von Enzym- und Strukturproteinen an die in einer bestimmten Nährlösung herrschenden Gegebenheiten anpassen. Auch Vielzeller, z.B. Pflanzen, brauchen kein Gehirn, um zu „Lernen“, wie sie die jeweils vorgefundenen Ressourcen – z.B. Sonnenlicht und Nährstoffe – so nutzen können, dass sie auch angesichts erheblicher Einschränkungen noch einigermaßen wachsen und gedeihen können, z.B. als Bonsai-Version eines Baumes. Selbst Tiere, die ein Gehirn besitzen, erbringen z.T. erstaunliche „Lernleistungen“, ohne ihr Gehirn dabei zu benutzen. So kann man beispielsweise Küchenschaben beibringen, ihre Beine anzuheben und oben zu halten, indem sie in eine Apparatur eingespannt werden, in der sie immer dann, wenn sie ihre Beine ausstecken, einen leichten Stromschlag in das betreffende Bein bekommen. Diese Leistung wird als „Erinnerung“ abgespeichert und ist auch noch einige Stunden nach Abschluss eines derartigen „Lerntrainings“ abrufbar. Spannt man die Tiere dann erneut in die Apparatur, so halten sie ihre Beine nun von Anfang an hochgezogen. Sie haben also etwas „hinzugelernt“. Nun können Küchenschaben aber zumindest für einige Zeit auch ohne Gehirn (ohne Kopf) überleben, so dass sich das gleiche Experiment auch mit solchen Tieren durchführen läßt, die (nach Dekapitation) kein Gehirn mehr besitzen. Auch diese Tiere „lernen“ ihre Beine in der Apparatur hoch zu halten, und auch sie „erinnern“ sich später, wenn sie erneut in die Apparatur eingespannt werden, an diese erworbene Lernleistung (und halten die Beine dann von Anfang an gleich hoch). Der Lernprozess – also die durch diese aversive Konditionierung ausgelösten Bahnungsprozesse auf der Ebene der für das Hochhalten der Extremitäten zuständigen neuronalen Verschaltungen und synaptischen Bindungen – ereignet sich als adaptive Leistung eben nicht im Gehirn, sondern in den für die Regulation der Beinbewegungen zuständigen Ganglien im Bauchmark der betreffenden Tiere.

Zum „Auswendiglernen“ zumindest solch banaler Sachverhalte wie es das Hochziehen und Hochhalten der Beine bei Verlust des Bodenkontaktes darstellt, braucht man also kein Gehirn, sondern lediglich anpassungsfähige Netzwerke, d.h. lernfähige Beziehungsmuster der die betreffende Leistung steuernden Teilsysteme. Das Hirn, so ist angesichts dieser Befunde zu vermuten, hat sich im Lauf der Evolution offenbar zu einem Organ entwickelt, das nicht zum Lernen optimiert ist, sondern das zur Steuerung dessen dient, was zu lernen ist, zu einem Organ, das dafür benutzt wird, um herauszufinden, wann etwas gelernt werden muss und wie etwas gelernt werden kann. Es ist also im Verlauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung von den Tieren bis hin zum Menschen immer stärker zu einem „Metainstrument“ zur Lenkung von Lernprozessen geworden.

2. Zum Lernen braucht man ein Motiv

So lange das Verhalten von Tieren noch durch genetisch programmierte, relativ starre Verschaltungsmuster gesteuert wird (wie bei den Schnecken, Würmern und Insekten), dient das Gehirn in erster Linie als „Schaltzentrale“, in der von den Sinnesorganen ankommenden Erregungsmuster bzw. charakteristische Kombinationen solcher Erregungsmuster an präformierte („Handlungs- und Reaktionsmuster“) weitergeleitet werden, die dann ihrerseits ein „angeborenes Verhaltensprogramm“ (durch einen angeborenen Auslösemechanismus) in Gang setzen. Weder kann man mit einem solchen Gehirn all zu viel lernen, noch hat ein solches Gehirn einen Einfluss darauf, was und wann etwas gelernt wird oder gelernt werden müßte. Dazu bedarf es eines plastischen, noch offenen und durch eigene Erfahrungen in seiner endgültigen inneren Struktur und in der Ausbildung seiner neuronalen Verschaltungen prägbares Gehirn. Solche Gehirne sind erst auf der Entwicklungsstufe der Sauropsiden mit der Herausbildung des sog. limbischen Systems entstanden. Das initial prägbare Gehirn der Vögel und Säugetiere hat sich dann zu dem zeitlebens durch eigene Erfahrungen formbaren Gehirnen des Menschen entwickelt. Was diese Gehirne auszeichnet ist nicht die Fähigkeit, sondern die für das Überleben unabdingbare Notwendigkeit, all das erst noch zu erlernen und in Form charakteristischer Verschaltungsmuster von Nervenzellen im Hirn zu verankern, worauf es für die eigene Lebensbewältigung und das Zusammenleben mit anderen Mitgliedern der Familie, der Sippe, also der jeweiligen Lebensgemeinschaft in die betreffenden Individien hineinwachsen, ankommt. Ein solches Gehirn muss über Bereiche verfügen, die immer dann aktiviert werden, wenn Wahrnehmungen gemacht werden, die für das eigene Überleben bedeutsam sind. Es muss Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können und immer dann, wenn etwas Neues, Bedeutsames wahrgenommen wird, einen Prozess in Gang setzen, der dazu führt, dass die bisherigen Verschaltungsmuster geöffnet, überformt und in einer bestimmten Weise verändert und angepaßt werden – und zwar so, dass in der äußeren (bzw. inneren) Welt aufgetretene und wahrgenommene Veränderung (z.B. eine aufgetauchte Bedrohung oder eine aufgefundene Ressource) jetzt und auch in Zukunft möglichst effizient (z.B. durch Flucht oder Vermeidung oder durch Annäherung oder Vereinnahmung) beantwortet werden kann.

Wenn etwas Neues wahrgenommen wird, was nicht zu dem bereits vorhandenen Wissen paßt, wenn man mit Erwartungen konfrontiert wird, die man zunächst nicht erfüllen kann, wenn Fähigkeiten und Fertigkeiten von Nöten sind, die noch nicht entwickelt sind – also immer dann, wenn etwas passiert, was nicht durch die Aktivierung eines bereits angelegten und gebahnten Verschaltungsmusters, durch eine Routine beantwortet werden kann – kommt es zur Ausbreitung einer unspezifischen Erregung, die auf die sog. emotionalen Zentren übergreift (Aktivierung des limbischen Systems). Die Erregung dieser emotionalen Bereiche führt zur vermehrten Ausschüttung von solchen Botenstoffen (Dopamin, Neuropeptide), die als Trigger für neuroplastische Umbruchprozesse in den nachgeschalteten Neuronenverbänden wirken. Es kommt dort zur Aktivierung intrazellulärer Signaltransduktionskaskaden („Messenger-Systems“), die über Veränderungen der Genexpression zur Stimulation der Bildung und Abgabe neuroplastischer Wirkstoffe, zur Stimulation des Auswachsens von Fortsätzen und einer verstärkten Synapsenneubildung führen. Auf diese Weise wirkt die emotionale Aktivierung als Instrument zur adaptiven Motifikation und Reorganisation neuronaler und synaptischer Verschaltungsmuster in den assoziativen Bereichen der Hirnrinde (Übersicht in Hüther 1996). Gelernt wird also mit einem solchen Gehirn immer dann besonders gut und besonders nachhaltig, wenn es „unter die Haut“ geht. Eine damit einhergehende Aktivierung emotionaler Zentren im Gehirn und die daraus resultierende Freisetzung neuroplastischer Botenstoffe kann durch eine plötzliche Bedrohung oder durch eine unerwartete Belohnung oder einfach nur durch einen überspringenden oder im Inneren aufkeimenden Funken der Begeisterung ausgelöst werden. Was jedoch unter diesen unterschiedlichen, die Lernbereitschaft herstellenden und die Lernfähigkeit fördernden emotionalen Aktivierungsprozessen gelernt wird – oder besser: auf einer Metaebene als innere Repräsentanz immer auch noch mit verankert wird – hat allerdings nachhaltige Konsequenzen für alle weiteren, nachfolgenden Lernprozesse: Druck und Bestrafung führt neben der Aneignung des „Lernstoffes“ zwangsläufig auch zur Verankerung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich in solchen Situationen als geeignet erweisen, beidem auszuweichen oder beides unwirksam zu machen. Belohnung führt in ähnlicher Weise – nebenbei immer auch – zur Ausbildung von Erwartungshaltungen und speziellen Strategien zur Beschaffung entsprechender Belohnungen. In beiden Fällen handelt es sich also um extrinsisch getriggerte – und als solche auch verinnerlichte, d.h. durch entsprechende Bahnungsprozesse auf der Ebene insbesonderer fronto-kortikaler neuronaler Netzwerke verankerte – Lernbereitschaften.

Nur die durch das Wecken einer eigenen Begeisterung an der Aneignung neuen Wissens, neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten getriggerten Lernprozesse können das bewirken, was die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Bereitschaft und der Lust am Lernen selbst bildet und daher das wichtigste Motiv für offene und kreative Lernprozesse darstellt: Die intrinsische Motivation, also das Bedürfnis, sich immer wieder neu auf Neues einzulassen und es in den eigenen Erfahrungsschatz zu integrieren.

3. Die Lust am Lernen kommt von Innen

Kinder sind so neugierig, so begeisterungsfähig und so offen für alles, was es in der Welt zu erleben gibt, wie nie wieder im späteren Leben. Ihr Gehirn ist zum Zeitpunkt der Geburt noch sehr unfertig. Nur die zum Überleben unbedingt erforderlichen Verschaltungen und Netzwerke in den älteren Regionen sind zum Zeitpunkt der Geburt bereits gut ausgebildet. Sie steuern all das, was zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung des Körpers notwendig ist, also auch all jene Reaktionen, die immer dann in Gang gesetzt werden, wenn es zu Störungen dieser inneren Ordnung kommt. Auch bestimmte, bereits im Mutterleib gemachte Erfahrungen, ebenso wie einige angeborene Reflexe sind bereits in Form bestimmter Verschaltungsmuster im Gehirn abgespeichert. Alles andere – und das ist so gut wie alles, worauf es im späteren Leben ankommt – muss erst noch hinzugelernt und als neue Erfahrung im Gehirn abgespeichert werden. Das Großhirn, genauer die Großhirnrinde ist derjenige Hirnbereich, in dem dieses neue Wissen in Form bestimmter Beziehungsmuster zwischen den Nervenzellen verankert wird. Es verdreifacht sein Volumen im ersten Lebensjahr und dehnt sich auch später noch erheblich aus, aber nicht deshalb, weil dort noch weitere Nervenzellen gebildet werden, sondern weil die zum Zeitpunkt der Geburt bereits vorhandenen Nervenzellen ein dichtes Gestrüpp von Fortsätzen ausbilden und sich mit den Enden ihrer Fortsätze auf vielfältige Weise miteinander verbinden. Dieser durch genetische Programme gesteuerte Prozess führt dazu, dass in den einzelnen Bereichen dieser Großhirnrinde ein riesiges Überangebot an Nervenzellverbindungen und –kontakten entsteht. Weil das kindliche Gehirn (oder das genetische Programm, das dessen Entwicklung steuert) nicht „wissen kann“, worauf es später im Leben einmal ankommt und welche Verbindungen wirklich gebraucht werden, wird also zunächst erst einmal ein großer Überschuss an Verschaltungen bereitgestellt. Stabilisiert und erhalten bleiben davon aber nur diejenigen, die auch wirklich benutzt und gebraucht werden. Der Rest wird einfach wieder abgebaut.

Nicht nur die Fähigkeit, ständig Neues hinzuzulernen, sondern auch diese Lust, immer wieder Neues zu entdecken bringen Kinder mit auf die Welt. Auch sie ergibt sich aus dem Umstand, dass das kindliche Gehirn für die nutzungsabhängige Herausformung bestimmter Verschaltungsmuster auf ein möglichst breites Spektrum unterschiedlichster Anregungen angewiesen ist. Die geeignetsten Anregungen für noch zu knüpfende bzw. zu stabilisierende Verschaltungen im Gehirn sind diejenigen, die das Kind von innen, also aus sich selbst heraus entwickelt. Diese vom Kind selbst in Gang gesetzte Suche nach Neuem hat nämlich gegenüber allen von außen an das Kind herangetragenen Anregungen einen entscheidenden Vorteil: Weil das Kind auf der Grundlage, seiner bisher bereits erlernten und im Hirn verankerten Fähigkeiten und Fertigkeiten selbst darüber bestimmt, was es an Neuem sucht und was es interessiert, können die unter diesen Bedingungen gemachten Lernerfahrungen besonders gut an das bereits vorhandene Wissen angeknüpft, können also die im Hirn bereits entstandenen Verschaltungsmuster besonders gut erweitert und ergänzt werden. Immer dann, wenn sich ein Kind auf die Suche macht und dabei etwas findet, das ein kleines bisschen mehr ist als das, was vorher schon da war, so geht es ihm genau so, wie jedem Erwachsenen – es freut sich. So lange ein Kind oder auch ein Erwachsener noch mit der Suche nach etwas beschäftigt ist, herrscht in seinem Gehirn eine gewisse Unruhe, eine Erregung und Spannung. Die wird durch das Erfolgserlebnis plötzlich aufgelöst und immer dann, wenn im Hirn aus Durcheinander Ordnung, aus Erregung Beruhigung wird, entsteht ein Gefühl von Wohlbehagen und Zufriedenheit. Je größer die anfängliche Aufregung war, desto größer wird die Freude, die auch schon ein Kind empfindet, wenn nun wieder alles „paßt“. Dann bekommt es um so größere Lust, sich erneut auf die Suche zu machen. Unter diesen Bedingungen wird im Gehirn immer auch eine Gruppe von Nervenzellen erregt und setzt an den Enden ihrer langen Fortsätze bestimmte Botenstoffe frei, die auch dann abgegeben werden, wenn Drogensüchtige Kokain oder Heroin einnehmen. Das läßt erahnen, wie groß dieses Lustgefühl werden kann, das Kinder empfinden, wenn sie sich immer wieder erfolgreich auf den Weg machen, um die Welt zu entdecken. Da es für kleine Kinder in der für sie noch sehr fremden Welt unendlich viel Neues zu entdecken und in ihren Erfahrungsschatz einzuordnen gibt, wird ihre Lernlust normalerweise nur durch die Phasen der Erschöpfung unterbrochen, die sich zwangsläufig immer wieder einstellen und auch einstellen müssen, damit all das, was sie in der Wachphase gelernt und entdeckt haben, nun, im Traumschlaf, noch einmal durchgearbeitet, stabilisiert und mit all den anderen bereits vorhandenen inneren Mustern im Hirn verbunden werden kann.

4. Lernen heißt Kontakte knüpfen und Beziehungen herstellen

Das kindliche Gehirn arbeitet bereits nach dem gleichen Prinzip wie das eines Erwachsenen. All das, was ein Kind bisher bereits über seine Sinnesorgane wahrgenommen und über sich, seinen Körper und die äußere Welt erfahren hat, ist in Form bestimmter Aktivierungs- und Verschaltungsmuster von Nervenzellen in seinem Gehirn als inneres Bild, als innere Repräsentanz verankert worden, manches davon eben auch schon vor der Geburt. Jede neue Wahrnehmung, also ein neuer Duft, eine neue Berührung, ein neues Geräusch oder ein neuer Sinneseindruck erzeugt im Gehirn ein entsprechendes Aktivierungsmuster, ein „Wahrnehmungsbild“. Das Gehirn versucht nun, ein bereits vorhandenes Nervenzell-Verschaltungsmuster zu aktivieren (ein „Erinnerungsbild“), das irgendwie zu dem durch die neue sinnliche Wahrnehmung entstandenen Aktivierungsmuster paßt. Stimmen beide Bilder (das vorhandene Erinnerungsbild und das neue Wahrnehmungsbild) völlig überein, so wird der neue Eindruck als bekannt abgetan und entsprechend (routinemäßig) beantwortet. Kann keinerlei Überlappung zwischen dem Neuen und irgendeinem bereits vorhandenen Bild hergestellt werden, so passiert gar nichts. Das neue Wahrnehmungsbild wird gewissermaßen als ein nicht zu den bisherigen Erfahrungen passendes sinnloses Bild verworfen. Interessant wird es immer nur dann, wenn das aus der Erinnerung abgerufene Erinnerungsbild zumindest teilweise zu dem neuen Wahrnehmungsbild paßt. Dann wird das alte Muster so lange geöffnet, erweitert und umgestaltet, bis das durch die neue Wahrnehmung entstandene Aktivierungsmuster in das nun modifizierte Erinnerungsbild integriert werden kann. Das wird dann als erweitetes inneres Erwartungsbild festgehalten und für künftige Wahrnehmungen zum Abgleich erneut abgerufen. Ein Mensch, nicht nur ein Kind, nimmt also nie alles wahr, was ihm angeboten wird, sondern nur das, was irgendwie zu seinen Vorstellungen und Erwartungen (also zu seinen bisher gemachten Erfahrungen) paßt.

Bereits im Mutterleib macht das ungeborene Kind erste Erfahrungen, die in seinem Gehirn dazu führen, dass die Nervenzellen bestimmte Verschaltungsmuster miteinander ausbilden. Die werden dann später als innere Repräsentanzen, als „Erinnerungsbilder“ benutzt, um sich in der Welt zurechtzufinden. Zug um Zug werden auf diese Weise die komplizierten Nervenzellverschaltungen in den verschiedenen Regionen aufgebaut. Die von den Sinnesorganen ankommenden Erregungsmuster werden dabei benutzt um immer stabilere und zunehmend komplexer werdende „innere Bilder“ in Form bestimmter Verschaltungsmuster in den verschiedenen Hirnregionen zu verankern. Das gilt nicht nur für das Sehen und die Verankerung innerer „Sehbilder“, sondern ebenso für das Tasten und die Herausbildung innerer „Tast- und Körperbilder“, für das Hören und die Entstehung entsprechender „Hörbilder“ und das damit einhergehende Verstehen und Verankern von Sprache, letztlich auch für das Interesse am Zuhören. Auf gleiche Weise entwickelt sich die Fähigkeit, aus Gerochenem innere „Geruchsbilder“ anzulegen und mit anderen Sinneswahrnehmungen und den dadurch erzeugten inneren Bildern zu verbinden. Ja sogar die von den Muskeln bei Veränderungen ihres Tonus zum Gehirn weitergeleiteten Signale werden benutzt, um innere Repräsentanzen von komplexen Bewegungsabläufen, gewissermaßen innere „Bewegungs- und Handlungsbilder“ in bestimmten Bereichen des Gehirns anzulegen und bei Bedarf abzurufen.

Die Hirnregion, in der all diese komplexen, nutzungsabhängigen neuronalen Verschaltungen letztendlich zusammenlaufen, ist eine Region, die sich beim Menschen zuletzt und am langsamsten entwickelt, und die auch bei unseren nächsten tierischen Verwandten weitaus kümmerlicher ausgebildet ist. Anatomisch heißt sie Frontal- oder Stirnlappen. Es ist diejenige Hirnregion, die in besonderer Weise daran beteiligt ist, aus anderen Bereichen des Gehirns eintreffende Erregungsmuster zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, und auf diese Weise von „unten“, aus tieferliegenden und früher ausgereiften Hirnregionen eintreffende Erregungen und Impulse zu hemmen und zu steuern. Ohne Frontalhirn kann man keine zukunftsorientierten Handlungskonzepte und inneren Orientierungen entwickeln, kann man nichts planen, kann man die Folgen von Handlungen nicht abschätzen, kann man sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle teilen, auch kein Verantwortungsgefühl empfinden. Unser Frontalhirn ist die Hirnregion, in der wir uns am deutlichsten von allen Tieren unterscheiden. Und es ist die Hirnregion, die in besonderer Weise durch den Prozeß strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen.

Kinder lernen immer, und sie lernen immer indem sie sich zu dem, was sie erfahren und was es in der Welt zu entdecken gibt, in Beziehung setzen. Genau wie wir als Erwachsene, müssen auch Kinder versuchen, jede neue Wahrnehmung und jede neue Erfahrung an etwas anzuknüpfen, was bereits da ist, was sie schon wissen und können, was ihnen also bereits irgendwie vertraut ist. Und wie bei uns Erwachsenen ist auch die Bereitschaft von Kindern, sich auf etwas Neues einzulassen, etwas Neues anzuprobieren um so größer, je sicherer sie sind und je größer das Vertrauen ist, mit dem sie sich in die Welt hineinwagen. Jede Art von Verunsicherung, von Angst und Druck erzeugt in ihrem Gehirn eine sich ausbreitende Unruhe und Erregung. Unter diesen Bedingungen können die dort über die Sinneskanäle eintreffenden Wahrnehmungsmuster nicht mit dem bereits abgespeicherten Erinnerungen abgeglichen werden. Es kann so nichts Neues hinzugelernt und im Gehirn verankert werden. Oft wird die Erregung und damit einhergehende Durcheinander im Kopf sogar so groß, dass auch bereits Erlerntes nicht mehr erinnert und genutzt werden kann. Das einzige was dann noch funktioniert, sind ältere, sehr früh entwickelte und sehr fest eingefahrene Denk- und Verhaltensmuster. Das Kind fällt dann zurück in solche Verhaltensweisen, die immer dann aktiviert werden, wenn es anders nicht mehr weiter geht: Angriff (Schreien, Schlagen), Verteidigung (Nichts mehr hören, sehen, wahrnehmen wollen, Stur bleiben, Verbündete suchen) oder Rückzug (Unterwerfung, Verkriechen, Kontaktabbruch). Jedes Kind verliert so seine Offenheit, seine Neugier und sein Vertrauen – und damit die Fähigkeit, sich auf Neues einzulassen. Dieser Zustand ist für Kinder genau so schwer auszuhalten wie für Erwachsene. Sie fühlen sich ebenso ohnmächtig und beschämt und reagieren mit Wut, Zorn oder gar mit Resignation auf die erlebte Enttäuschung.

Die Gefahr, dass Kinder in solche Situationen geraten, läßt sich nur dadurch abwenden, indem ihnen Gelegenheit geboten wird, genau das wiederzufinden, was sie mehr als alles andere brauchen, um sich mit anderen Menschen und dem, was sie in der Welt erleben, in Beziehung zu setzen: Vertrauen. Nichts ist in der Lage, das Durcheinander im Kopf besser aufzulösen, und die zum Lernen erforderliche Offenheit und innere Ruhe wieder herzustellen, als dieses Gefühl von Vertrauen. Deshalb suchen alle Kinder enge Beziehungen zu Menschen, die ihnen Sicherheit bieten und ihnen bei der Lösung von Problemen behilflich sind, die ihnen nicht nur sagen, sondern selbst vorleben, worauf es im Leben ankommt und ihnen auf diese Weise Orientierung bei der Entdeckung ihrer eigenen Möglichkeiten zur Gestaltung ihres Lebens bieten.

Die eigenen Eltern sind normalerweise diejenigen Personen, denen Kinder, wenn sie auf die Welt kommen, zunächst vorbehaltlos vertrauen. Wenn sich das Baby von ihnen verstanden fühlt und seine Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme, Zärtlichkeit und Anregungen erfüllt werden, fühlt es sich in ihrer Gegenwart geschützt und geborgen. Diese Sicherheit-bietende Bindungsbeziehung ist die Voraussetzung dafür, dass ein Kind bereits im ersten Lebensjahr so viel Neues aufnehmen, Neues ausprobieren, und die dabei gemachten Erfahrungen in seinem Hirn fest verankern kann. Die so entstandenen komplizierten Muster von Nervenzellverschaltungen ermöglichen es ihm zunehmend komplizierte Bewegungen zu steuern, erste Zusammenhänge und Regeln zu erkennen und daraus eigene logische Schlüsse zu ziehen und entsprechend zu handeln. Damit diese anfangs noch sehr lockeren Verschaltungsmuster gefestigt werden können, brauchen Kinder viel Ruhe und Zeit zum aufmerksamen Beobachten und zum intensiven Üben und ausprobieren. Kinder lernen am besten, wenn sie den Lernstoff selbst bestimmen können. Sie sind geborene Entdecker und genießen es, ihre Neugier auszuleben. Wer keine Fehler macht, kann auch nichts hinzulernen. Deshalb erschließen auch schon Kinder die Welt durch Versuch und Irrtum – und je häufiger sie die Erfahrung machen, dass sie bereits allein in der Lage sind, ein Problem zu lösen, desto stärker wächst ihr Selbstvertrauen, ihr Mut und ihre Sicherheit. Wenn sich dann noch jemand mit ihnen gemeinsam über jede gelungene Lösung freut, wächst auch ihr Vertrauen, dass sie selbst in der Lage sind, einen anderen Menschen glücklich zu machen. Soziale Resonanz nennen die Hirnforscher dieses Phänomen der wechselseitigen Verstärkung von Gefühlen, das dazu führt, dass der Funke der Begeisterung überspringt.

Wie wenig wir über die Bedeutung nutzungsabhängiger Plastizität für die Hirnentwicklung wissen, wie rasch und wie unerwartet alte, bislang für richtig gehaltene Theorien ins Wanken geraten sind, machen neuere Untersuchungen über die entwicklungsabhängigen strukturellen Veränderungen des menschlichen Gehirns deutlich, die mit bildgebenden Verfahren nachweisbar sind. Bei Kindern von drei bis sechs Jahren kommt es insbesondere in den frontokortikalen Hirnbereichen, die die Planung und Organisation von Handlungen sowie die Konzentrationsfähigkeit auf bestimmte Aufgaben steuern, zu einer deutlichen Volumenzunahme. Bei Jugendlichen von sechs bis zwölf Jahren lässt sich insbesondere eine verstärkte Ausformung und Vergrößerung in solchen kortikalen Regionen nachweisen, die eine besondere Bedeutung für räumliches Vorstellungsvermögen und abstraktes Denken besitzen. Kurz vor der Pubertät kommt es dann zu einer zweiten Phase des Ausbaus neuronaler Verschaltungen im frontalen Kortex, der erneut mit einer messbaren Volumenzunahme einhergeht. Eine weitere Umstrukturierungsphase beginnt nach der Pubertät. Was während dieser Phase geschieht, wird wesentlich von der Regel „use it, or lose it“ bestimmt (Gidd et al. 1999, Sovell et al. 199 a, b).
Das alles heißt, dass nicht nur die frühe Kindheit, sondern die gesamte Jugendphase eine entscheidende Entwicklungsperiode darstellt, in der das Gehirn durch die Art seiner Nutzung gewissermaßen „programmiert“ wird. Das Ausmaß und die Art der Vernetzung neuronaler Verschaltungen, insbesondere im frontalen Kortex, hängen also ganz entscheidend davon ab, womit sich Kinder und Jugendliche besonders intensiv beschäftigen, zu welcher Art der Nutzung ihres Gehirns sie im Verlauf des Erziehungs- und Sozialisationsprozesses angeregt werden. Konsequenterweise muss dann zumindest dieser Bereich des menschlichen Gehirns als soziales Produkt angesehen werden (Eisenberg 1995).

5. Lernstörungen als Ausdruck gestörter Beziehungen

Die notwendige Offenheit des sich entwickelnden Gehirns für strukturierende Einflüsse aus der äußeren Welt hat zwangsläufig zur Folge, dass es auch Einflüssen ausgesetzt werden kann, die die Integrität seiner inneren Struktur und Organisation bedrohen. Die genetischen Programme, die die Ausformung eines so offenen und daher enorm störbaren Hirns ermöglichen, konnten nur unter der Voraussetzung entstehen und im Genpool des Menschen verankert werden, dass derartige Störungen so gut wie nie vorkamen. Hand in Hand mit der Öffnung der anfangs noch recht starren genetischen Programmierung der Hirnentwicklung mussten im Lauf der Evolution also immer effizientere Mechanismen zum Schutz des sich entwickelnden Hirns vor äußeren Störungen entwickelt werden. Neben den bereits bei den Säugetieren „erfundenen“ Schutz der Nachkommen durch Verlagerung der störanfälligsten Entwicklungsschritte in den Mutterleib, wurden bei den Primaten und insbesondere beim Menschen Sicherheit bietende Bindungen zur entscheidenden Voraussetzung für die Ausbildung lernfähiger, plastischer Gehirne (Hüther 2000).
Nichts erzeugt nun soviel unspezifische Erregung im Hirn (und vor allem in den emotionalen Zentren) eines Kleinkindes wie das plötzliche Verschwinden der Mutter. Offenbar ist der Verlust der bis dahin vorhandenen, Sicherheit bietenden Bezugsperson die bedrohlichste und massivste Störung, die das sich entwickelnde Gehirn treffen kann (Gunnar 1998).
Wie in Tierversuchen („maternal deprivation“) unnötig oft repliziert, gilt das bereits für Ratten und in noch stärkerem Ausmaß und mit noch nachhaltigeren Folgen für die weitere Hirnentwicklung von Primaten. Das Gehirn dieser bedauernswerten Versuchstiere entwickelt sich unter diesem Mangel an Sicherheit- und Anregung-bietenden Beziehungen nur zu einer notgereiften Kümmerversion dessen, was aus ihm hätte werden können (Übersicht in Hüther 1998).
- Je früher die Trennung erfolgt, desto globaler ist die Retardierung des Gehirns auch noch im erwachsenen Zustand ausgeprägt.
- Am stärksten wird diejenige Hirnregion betroffen, sie sich zum Zeitpunkt des Verlustes der Mutter in einer sog. „growth spurt“ Phase befindet, in der also besonders komplexe Wachstums- und Differenzierungsprozesse besonders rasch ablaufen.
- Immer wird nachfolgend auch die Entwicklung derjenigen Strukturen und Subsysteme beeinträchtigt, die sehr spät reifen und deren Komplexitätsgrad vom jeweils erreichten Komplexitätsgrad der bereits entstandenen, älteren Strukturen und Subsysteme abhängig ist (frontaler Cortex, monoaminerge Systeme).
- Manches lässt sich nach einer solchen Störung später noch aufheben und kompensieren, anderes nicht.
Die menschliche Entsprechung dieser „maternal deprivation“ ist die frühkindliche Bindungsstörung. Eine extreme Ausprägung solch früher Beziehungsstörungen ist die frühkindliche Traumatisierung. Die damit einhergehende überstarke Aktivierung emotionaler Zentren und Stress-sensitiver neuroendokriner Regelkreise kann durch keine der bisher entwickelten Bewältigungsstrategien unter Kontrolle gebracht werden. Unter diesen Bedingungen breitet sich die Erregung auch auf ältere, subkortikale Hirnbereiche aus und führt dort zur Aktivierung sog. acharischer Notfallreaktionen und –handlungen (Ohnmacht, Erstarrung, Stereotypien etc.). Oft bleiben diese regressiven Reaktionsmuster das einzige noch verfügbare Instrument zur Bewältigung der inneren Not dieser Kinder. Die Auswirkungen früher Traumatisierungen und der durch solche Traumata ausgelösten Einschränkungen der Beziehungsfähigkeit auf die weitere Hirnentwicklung sind an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Hüther 2003).

Weniger dramatisch, aber in ihren Folgen ebenso nachhaltig für die weitere Nutzung und Strukturierung komplexer Verschaltungsmuster im kindlichen Gehirn sind frühe Bindungsstörungen, die sich als unsichere oder desorganisierte innere Arbeitsmodelle über die Art und die Gestaltbarkeit der Beziehungen zu den primären Bezugspersonen herausformen.
Die wichtigste Ursache für die Entstehung früher Bindungsstörungen ist ein Mangel an emotionaler Zuwendung. Es gibt viele Eltern, die noch sehr stark mit sich selbst beschäftigt sind, denen ihre berufliche Karriere ungeheuer wichtig ist, die sich selbst verwirklichen, viel erleben und das Leben genießen wollen. Sie kümmern sich intensiv um ihr Aussehen, ihre Hobbys, ihre Wohnungseinrichtung und um die Anschaffung und Zurschaustellung unterschiedlicher Statussymbole. Kinder sind so selbstbezogenen Eltern bei der Verwirklichung ihrer individuellen Ziele eher hinderlich, und das kindliche Bedürfnis Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Zuwendung wird ihnen allzu leicht lästig. Meist tun diese Eltern ihre Pflicht, jedenfalls das, was sie für ihre Pflicht halten, und das bisweilen sogar besonders gut. Sie sorgen für eine besonders ausgewogene Ernährung, für Sauberkeit und angemessene hygienische Verhältnisse, ansprechende, modische Kleidung und beschaffen alle möglichen Gerätschaften, von denen sie glauben, sie seien wichtig für ihr Kind. Sie beruhigen ihr (schlechtes) Gewissen, indem sie das Kind nach Kräften verwöhnen. Was ihr Kind aber wirklich braucht, nämlich dass sie ganz und gar da sind, dass sie sich ihm voll und ganz, also emotional, geistig und körperlich zuwenden, wenn es verunsichert ist und Angst hat, das schenken diese Eltern ihren Kinder nicht oder zumindest nicht dann, wenn siees besonders dringend brauchen. Deshalb sind solche Kinder oft bereits sehr früh gezwungen, sich auf sich selbst zu verlassen.
Bei ihnen ist die emotionale Bindung an primäre Bezugspersonen nur unzureichend entwickelt. Sie sind gezwungen, den daraus resultierenden Mangel an emotionaler Sicherheit durch verstärkte Selbstbezogenheit zu kompensieren. So schaffen sie sich eine eigene, von ihnen selbst bestimmte Lebenswelt und schirmen sich gegenüber fremden Einflüssen und Anregungen ab, die nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmen. In dieser nur von ihnen selbst bestimmten Welt gibt es keine wirklichen Herausforderungen mehr. Es können keine vielfältigen neuen Erfahrungen gemacht und im sich entwickelnden Gehirn verankert werden. Wichtige Entwicklungsprozesse im kindlichen Gehirn finden nicht mehr oder nur eingeschränkt statt.
Für das Lernverhalten der Kinder bedeutet dies einen Rückgang an Motivation, Verstehen, Behalten, Erinnern, Erkennen von Zusammenhängen und eine eingeschränkte Fähigkeit beim Erkennen und Lösen von Konflikten. Ihr Sozialverhalten wird von zunehmendem Rückzug in selbstgeschaffene Welten, Ablehnung fremder Vorstellungen und aggressiver Verteidigung ihrer eigenen Ansichten und Haltungen bestimmt.
Meist handelt es sich hierbei um sehr rigide, einseitige, pseudoautonome Strategien der Angstbewältigung. Die dabei aktivierten neuronalen Verschaltungen werden um so nachhaltiger gebahnt, je früher und je häufiger sie eingesetzt werden. Sie können schließlich das gesamte Fühlen, Denken und Handeln dieser Kinder bestimmen. Die betreffenden Kinder grenzen sich zunehmend von den Vorstellungen anderer, vor allem denen Erwachsener ab. Ihr mangelndes Einfühlungsvermögen behindert sie beim Erwerb vielfältiger sozialer Kompetenzen. Damit fehlt ihnen die Grundvoraussetzung dafür, gemeinsam mit möglichst vielen, unterschiedlichen Menschen nach tragfähigen Lösungen suchen und Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können.
Die Auswirkungen früher Bindungsstörungen auf die Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit sind im späteren Leben nur schwer korrigierbar. Kinder, die keine sicheren Bindungen ausbilden konnten, haben Angst vor körperlicher und emotionaler Nähe. Wenn es ihnen nicht gelingt, diese Angst zu überwinden, bleiben sie zeitlebens isoliert, ich-bezogen und bindungsunfähig. Manche haben Glück und finden einen Lehrer oder Erzieher, der sie versteht und ihnen hilft, allmählich wieder Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, das Vertrauen in menschliche Bindungen wiederzuerlangen und sich auf die gemeinsame Suche nach gemeinsamen Lösungen einzulassen. Manche scheitern irgendwann an den selbstzerstörerischen Folgen ihrer pseudoautonomen Bewältigungsstrategien (Butzmann 2002).

Diese hochkomplexen Verschaltungsmuster innerhalb des Frontalhirns wie auch zwischen dem Frontalhirn und den anderen Bereichen der Hirnrinde und den tiefer liegenden, sog. subkortikalen Netzwerken können nur dann ausgebildet werden, wenn Kindern bereits im Säuglingsalter vielfältige Gelegenheiten geboten werden, sich selbst und ihre Wirkungen auf andere Menschen wahrzunehmen. Wenn die Eltern alle Probleme beiseite räumen, hindern sie ihre Kinder daran, die Erfahrung machen zu können, dass es möglich ist, Probleme mithilfe anderer (der Eltern) zu lösen. Kinder, denen diese wichtige Erfahrung vorenthalten wird, richten sich nur nach ihren eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen. Zur Bewältigung der altersentsprechenden Aufgaben fehlen ihnen wichtige Ichfunktionen wie Interesse und Aufmerksamkeit an der Lösung solcher Aufgaben. Ihr Selbstbewusstsein ist nur schwach ausgeprägt, ihr Ich ist zu dünnhäutig, überempfindsam und reizoffen. Oft fühlen sich diese Kinder überfordert, wenn sie in Kindergarten und Schule gezwungen sind, auf eine bestimmte Weise zu denken und zu handeln, sich bestimmten Denkweisen und Handlungsformen anzupassen. Obwohl das Verhalten dieser Kinder äußerlich entwicklungsgerecht erscheinen mag, sind sie oft in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung auf der Stufe eines Kleinkindes stehen geblieben.
In fataler Weise unterstützt wird diese Entwicklung durch alles, was Kinder daran hindert, mit anderen Menschen in eine aktive Interaktion zu treten, ihre bisher erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erproben und weiterzuentwickeln. So geht es beispielsweise Kindern, die täglich viele Stunden vor einem Fernsehgerät zubringen. Zur Passivität verurteilt, werden sie mit bunten Bildern, Handlungsfetzen, Aktionsbruchstücken und ständig neuen, emotional erregenden Eindrücken und angstauslösenden Vorstellungen konfrontiert. Auf ihre Fragen bekommen sie keine Antworten, ihre Vorschläge hört niemand, sie können nichts ändern, nichts verhindern und auch nicht helfend eingreifen. Was in ihnen zurückbleibt, ist die Erfahrung, dass es auf ihr eigenes Denken und Handeln nicht ankommt, dass ihre selbständige Suche nach Lösungen nutzlos ist, dass das Geschen abläuft, ohne dass sie selbst darauf Einfluss nehmen können. Solche Kinder können nur schwer das Gefühl eigener Handlungskompetenz, eigener Gestaltungsfähigkeit und eigener Bedeutsamkeit entwickeln. Sie werden allzu leicht zu Konsumenten, die immer nur etwas von anderen haben wollen. Weil sie keine Gelegenheit hatten, sich selbst einzubringen, fehlt ihnen das Gefühl, dass sie anderen etwas geben können. Sie sind und bleiben oft allein, finden keine Freunde, können sich nicht in Beziehungen weiter entwickeln und sind ohne sichere emotionale Bindungen schutzlos ihren Ängsten ausgeliefert.
Unsicherheit und Angst stören die Integration und Organisation komplexer Wahrnehmungen und Reaktionsmuster. Sie zwingen das Kind zu raschen, eindeutigen Entscheidungen und damit zum Rückgriff auf ältere, bereits gebahnte Bewältigungsstrategien. Was unter diesen Bedingungen nicht stattfindet und auch nicht gelingen kann, ist eine über die bereits vorhandenen Möglichkeiten hinausgehende Fortentwicklung der eigenen Fähigkeit zur Integration, Bewertung und Filterung komplexer Wahrnehmungen. Ihre Wahrnehmungen können Kinder nur dann integrieren, wenn diese in einem zusammenhängenden Kontext erlebt werden. Neue Wahrnehmungen müssen an bereits vorhandene Erfahrungen anknüpfbar sein. Ein Zustand, bei dem zu viele Wahrnehmungen ungeordnet auf einen Menschen einprasseln, ist schon für Erwachsene unerträglich, für Kinder erst recht. Er macht Angst und setzt gewissermaßen all das außer Kraft, was normalerweise vom Frontalhirn geleistet werden muss, aber angesichts des dort herrschenden Durcheinanders nicht geleistet werden kann.
Es mag noch mehr Faktoren geben, die dazu beitragen, dass es heute auffällig vielen Kindern nicht gelingt, hinreichend komplexe Verschaltungen in ihrem Frontalhirn auszuformen und zu stabilisieren. Aber all diese Einflüsse zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit aus: Sie helfen dem Kind nicht, eine brauchbare Antwort auf die Frage zu finden, worauf es im Leben ankommt.

Damit es Kindern gelingt, sich im heutigem Wirrwarr von Anforderungen, Angeboten und Erwartungen zurechtzufinden, brauchen sie Orientierungshilfen, also äußere Vorbilder und innere Leitbilder, die ihnen Halt bieten und an denen sie ihre Entscheidungen ausrichten. Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene „Vorbilder“ können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln. Nur so kann im Frontalhirn ein eigenes, inneres Bild von Selbstwirksamkeit stabilisiert und für die Selbstmotivation in allen nachfolgenden Lernprozessen genutzt werden. Bildung kann nicht gelingen,

- wenn Kinder in einer Welt aufwachsen, in der die Aneignung von Wissen und Bildung keinen Wert besitzt (Spaßgesellschaft),
- wenn Kinder keine Gelegenheit bekommen, sich aktiv an der Gestaltung der Welt zu beteiligen (passiver Medienkonsum),
- wenn Kinder keine Freiräume mehr finden, um ihre eigene Kreativität spielerisch zu entdecken (Funktionalisierung),
- wenn Kinder mit Reizen überflutet, verunsichert und verängstigt werden (Überforderung),
- wenn Kinder daran gehindert werden, eigene Erfahrungen bei der Bewältigung von Schwierigkeiten und Problemen zu machen (Verwöhnung),
- wenn Kinder keine Anregungen erfahren und mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Wünschen nicht wahrgenommen werden (Vernachlässigung).

Es ist gut zu wissen, was Kinder und Jugendliche brauchen, damit sie die Lust am Lernen nicht verlieren. Entscheidend aber ist, ob dieses Wissen auch genutzt wird, um ihnen das, was sie brauchen, auch zu geben.

Literatur

Butzmann, E.: Frühkindliche Bindungsstörungen. In: Neue Sammlung 42/2002, S. 329-341.

Eisenberg, L.: The social construction of the hman brain. In: Am. J. Psychiatry 152/1995, pp. 1563-1575.

Gidd, J. N./Blumenthal, J./Jeffries, N. O. et al.: Brain development during childhood and adolescence: a longitudinal MRT study. In: Nature Neuroscience 10/1999, issue 2, pp. 861-863.

Gunnar, M.: Quality of early care and buffering of neuroendocrine stress reactions: Potential effects on the developing human brain. In: Preventative Medicine 27/1998, pp. 208-211.

Hüther, G.: The central adaptation syndrome: Psychosocial stress as a trigger for adaptive modifications of brain structure and brain function. In: Progress in Neurobiology 48/1996, pp. 569-612.

-: Stress and the adaptive self-organization of neuronal connectivity during early childhood. In: Int. J. Devl. Neurosci 16/1998, pp. 297-306.

-: Die Evolution der Liebe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000.

-: Und nichts wird fortan so sein wie bisher. Die Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen für die weitere Hirnentwicklung. Analy. Kinder- u. Jugendlichenpsychotherapie. 23/2002, pp. 461-476.


Sowell, E. R./Thompson, P. M./ Holmes, C. J., et al.: Localizing age-relates changes in brain structure between childhood and adolescence using. Statistical parametic mapping. In: Neuro Image 9/1999, pp. 587-597. (1999a)

Sowell, E. R./Thompson, P. M./Holmes, C. J., et al.: In vivo brain imaging for pot-adolescent brain maturation in frontal and striatal regions. In: Nature Neuroscience 2/1999, pp. 859-861. (1999b)


Sachbücher zum Weiterlesen:

1. G. Hüther: Biologie der Angst, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 1997.
2. G. Hüther: Die Evolution der Liebe, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 1999.
3. G. Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2001.
4. G. Hüther: Die Macht der inneren Bilder, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2004.
5. G. Hüther, H. Bonney: Neues vom Zappelphilipp. Walter Verlag Düsseldorf, 2002.
6. K. Gebauer, G. Hüther: Kinder brauchen Wurzeln, Walter Verlag Düsseldorf, 2001.
7. K. Gebauer, G. Hüther: Kinder suchen Orientierung, Walter Verlag Düsseldorf, 2002.
8. K. Gebauer, G. Hüther: Kinder brauchen Spielräume, Walter Verlag Düsseldorf, 2003.


Kurzvita:

Prof. Dr. G. Hüther ist Neurobiologe und leitet die Abt. f. Neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Schwerpunkte seiner gegenwärtigen Tätigkeit: Einfluß psychosozialer Faktoren und psychopharmakologischer Behandlungen auf die Hirnentwicklung, Auswirkungen von Angst und Stress und Bedeutung emotionaler Bindungen. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und populärwissenschaftliche Darstellungen (Sachbuchautor). Mitbegründer von Win-future.de (Netzwerk Erziehung und Sozialisation) und Mitorganisator der „Göttinger Kinderkongresse“.











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