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Karl Gebauer: " Wir müssen einander achten" (Johannes Rau in seiner Trauerrede in Erfurt)
Geschrieben am Sunday, 12. May von S. Ihlenfeldt
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Karlgebauer schreibt: "" Wir müssen einander achten" (Johannes Rau in seiner Trauerrede in Erfurt)
Karl Gebauer
„Wir müssen einander achten“
(Johannes Rau in seiner Trauerrede in Erfurt)
Die große Trauerfeier für die Opfer des Massenmörders Robert Steinhäuser liegt zwei Tage zurück. Heute, so heißt es, würden in aller Stille die Toten beigesetzt.
„Wir sind ratlos“, diese Feststellung des Bundespräsidenten in seiner Trauerrede auf dem mit einhunderttausend Menschen gefüllten Domplatz in Erfurt ist eine Geste der Demut und Weisheit. „Wir verstehen diese Tat nicht, wir werden sie - letzten Endes auch nicht völlig erklären können“, sagt er kurz darauf. „Wir suchen nach Ursachen und nach Verantwortung. Wir möchten schnell wissen, welche Konsequenzen gezogen werden müssen, damit so etwas nicht wieder geschieht. (...) Wir sind ratlos und wir spüren, dass schnelle Erklärungen so wenig helfen, wie schnelle Forderungen.“
Johannes Rau wendet den Blick auf die Befindlichkeiten in unserer Gesellschaft und sagt: “Wir leben miteinander und kennen uns häufig nicht. Wir gehen miteinander zur Schule oder zur Arbeit und wir kümmern uns oft nicht um den anderen.“ Und daraus zieht er den Schluss: „Wir müssen einander achten, und wir müssen aufeinander achten.“
Damit hat er uns alle einbezogen. Jeder kann und soll an seinem Ort in seinen sozialen Beziehungen auf sich und den anderen achten. Damit aktualisiert er eine Botschaft, die viele tausend Jahre alt ist. Er sendet sie von dem Ort des grauenhaften Mordens in die Welt.
Dabei verliert er keineswegs den blick für die Realitäten. „Unsere Kinder und Schüler müssen sich aneinander messen. Sie müssen lernen, Konkurrenz auszuhalten. Ohne Leistung, ohne Leitungsbereitschaft wäre jede Schule wirklichkeitsfremd.“ Die Selbstkontrolle der Medien sei wichtig, sagt er und fügt hinzu: „Unsere eigene Selbstkontrolle ist aber noch viel wichtiger.“ (Frankfurter Rundschau, 4.05.02)
Mit dieser Botschaft können wir arbeiten. Johannes Rau ermuntert uns zu einer gelebten Mitmenschlichkeit. Er tut dies, obwohl viele Einzelheiten der schrecklichen Tat noch nicht geklärt sind und wir möglicherweise noch lange auf Erklärungen hinsichtlich der Motivation für das Morden des Täters warten müssen. Vielleicht werden wir nie eine ausreichende Antwort erhalten.
Damit hat er einen Weg für sinnvolle Aktivitäten aufgezeigt. Wir müssen nicht warten, zu welchen Ergebnissen die kriminologischen und die psychologischen Untersuchungen und Interpretationen führen werden.
Wir sollten auch nicht zu große Hoffnung in die donnernden politischen Propheten setzen, die mit ausholenden Armbewegungen, mit grimmigen Minen und denkmalfestem Auftreten die Waffen in die Waffenschränke - getrennt von ihren tödlichen Kugeln - verbannen wollen. Die markigen Worte der Parteienvertreter werden noch lange in unsere Köpfe hineinhämmern, es komme auf die Heraufsetzung des Alters für legalen Waffenbesitz und für eine Eindämmung gewaltverherrlichender Spiele in den Medien an. Auch das sind wichtige Maßnahmen.
Der Bundespräsident hat die Richtung unserer Suchbewegungen klar formuliert. Diese Vorgabe hat Bedeutung für Eltern, Erzieherinnen, Lehrer, Wissenschaftler, Politiker und die Medien. Die Selbstkontrolle fängt bei jedem einzelnen an.
Und Gemeinschaft beginnt mit dem werdenden Leben. Und spätestens bei der Geburt eines Kindes wird sichtbar, dass nun eine Bindung aufgebaut werden muss, die möglichst ein Legen lang trägt.
Die Tat in Erfurt ist Ausgangpunkt für ein großes Erschrecken. Viele Menschen werden noch lange mit diesem konkreten Ereignis und seinen Folgen direkt konfrontiert sein. Sie werden vielfältige und sehr unterschiedliche Hilfe benötigen und hoffentlich auch erhalten.
Der Täter hat uns in eine Situation gebracht, in der wir handlungsfähig bleiben und sein müssen, auch wenn wir die Dimension des Ereignisses immer noch nicht in vollem Umfang begreifen.
Kann man, ohne die Motive und die Entwicklung des Täters zu kennen schon Konsequenzen für das eigene Handeln ziehen?
Aus einer gewissen Distanz zu den konkreten Ereignissen ergeben sich Aufgaben, die jeder von uns im Sinne der Selbstverantwortung aufgreifen sollte. Wir werden einerseits mit wachsamen Augen die Ergebnisse der Ermittlungsbehörden aufnehmen und interpretieren müssen. Andererseits können wir ähnliche Verbrechen als Grundlage für das Verstehen solcher Taten heranziehen.
Noch während ich an diesem Text arbeite, erscheint der SPIEGEL (Ausgabe Nr. 19. 6.05.02) mit einem differenzierten Bericht über „Das Leben und Töten des Robert S.“ Schneller als ich angenommen hatte, erhalten wir weitere Hinweise aus dem Leben des 19jährigen Mörders. Die Titelgestaltung mit den Fotos aus Kindertagen lässt ahnen, was uns im Bericht erwartet. Robert ist in einer Familie aufgewachsen, die es in Deutschland tausendfach gibt. Zum schon vorhanden Erschrecken kommt diese Erkenntnis hinzu. Es scheint eine „ganz normale Familie“, zu sein, aus der dieser Täter kommt. Allerdings wird sichtbar, dass Vater und Mutter von einem bestimmten Zeitpunkt an dem Treiben ihres Sohnes hilflos ausgeliefert waren. Sie hatten keinen Einfluss mehr auf ihn. Der Faden des Vertrauens war gerissen. Die Offenheit der Eltern und die ausführliche Berichterstattung im SPIEGEL geben den Blick frei auf eine Familie, die offensichtlich nicht in der Lage war, die eigenen Grenzen zu erkennen und sich Rat und Hilfe von außen zu holen. Hätten sie doch in ihrer Hilflosigkeit Rat gesucht, vielleicht hätte das Verbrechen verhindert werden können.
Es gibt viele Familien, denen es so oder so ähnlich geht. In meinem Buch „Wenn Kinder auffällig werden. Perspektiven für ratlose Eltern“, habe ich unterschiedliche familiäre Konstellationen beschrieben. Da sagen Mütter: „ich bin traurig wegen der Gewalt meines Sohnes“; „Ich bin maßlos enttäuscht von meiner Tochter“ oder „Ich halte es mit Steffen nicht mehr aus.“ (Gebauer, 2000 a). Dies Mütter verbindet die Erkenntnis, dass sie es alleine zu Hause nicht mehr schaffen. So haben sie sich auf den Weg gemacht, um in einer Gruppe nach Lösungen zu suchen.
Zahlreiche Untersuchungen zur familiären Situation heutiger Familien belegen, dass 25 bis 27 % aller Eltern dringend eine Beratung für ihre erzieherische Aufgabe benötigen. Mit einem Blick kann man feststellen, dass die vorhanden Beratungsstelen nicht ausreichen würden, wenn diese Eltern anklopten, um Rat einzuholen. Viel bedrohlicher ist aber die Erkenntnis, dass nur etwa 3% der Eltern sich um eine Beratung bemühen. Hier wäre ein Anknüpfungspunkt für politisches Handeln. In den politischen Debatten über die Konsequenzen aus dem Massenmord in Erfurt werden allerdings andere Prioritäten gesetzt.
Wichtig ist zur Zeit auch die Frage, was in einem Menschen vorgeht, der eine solche Tat begeht.
Hilfreich können Interpretationen über das Innenleben und die Vorgehensweisen von Amokläufern sein, wie sie Micha Hilgers anbietet.
„Im Gegensatz zur Tat im Affekt, bei der ein Menschen aus übermächtigem Zorn tötet und kurz darauf bereut, planen Amokläufer ihren Anschlag. (...)Der eigene Tod ist Teil eines Kalküls und wird als Finale in Szene gesetzt“ (Frankfurter Rundschau, 29.4.02). Amokläufer hätten vor ihrer Tat das Gefühl, in massiver Weise ungerecht behandelt worden zu sein. Sie verfügten kaum über angemessene Konfliktstrategien und könnten sich bei Interessenkonflikten schlecht durchsetzen. Autoritäten gegenüber fühlten sie sich häufig hilflos ausgeliefert. So entwickele sich ohnmächtiger Zorn auf eine scheinbar ungerechte Welt. Es bedürfe dann nur noch eines Anlasses, um die Rachephantasien in die Tat umzusetzen. Das Gefühl der Zurücksetzung in einer als ungerecht erlebten Welt wird durch die Tat kompensiert. Die eigene Ohnmacht wird in einer letzten grausamen Tat in das Erlebnis einer großen und umfassenden Mächtigkeit umgewandelt. Das lädierte Selbstwertgefühl würde so für einen kurzen Zeitraum umgewandelt in eine Gefühl von Macht. Dabei nehme ein Amokläufer den eigenen Tod mit in Kauf. Experten betonen, dass Amokläufer fast immer männlich seien, sie hätten häufig Kontakt zu Waffen, manchmal seien sie regelrechte Waffennarren. „Erfahrungen mit Gewalt als Mittel der Konfliktlösung oder der Rückzug in eine Scheinwelt mit Gewaltvideos und Computerspielen, begünstigen die Umsetzung der Phantasien in die Realität. (...) Reißerische Medienberichte über Amoklauf begünstigen zudem die Nachahmung.“ (Hilgers, FR. vom 29.4.02)
Im Nachhinein, auch darin sind sich die Experten einig, ließen sich Einzelheiten vor der Tatausführung zu einem Puzzle zusammenfügen, so dass es den Anschein habe, nahe Personen hätten das Verbrechen möglicherweise sogar verhindern können. Aber das sei die Perspektive aus der Rückschau.
Daraus wird dann oft und vorschnell gefolgert, eine Gesellschaft sei solchen Taten völlig hilflos ausgeliefert. Ich kann hier weder in der einen noch in der anderen Richtung einen Beweis antreten.
Aus der Arbeit mit Kindern in Konfliktsituationen unterschiedlichster Art weiß ich aber, dass es sich lohnt, konstruktiv an Gewaltsituationen zu arbeiten. Wenn man sich nun vor Augen führt, dass bei solchen Gewalttätern ein äußerst schwach ausgebildetes Selbstbewusstsein verbunden mit geringer Frustrationstoleranz und einem nur gering ausgeprägten Muster für alternative Konfliktklärungen vorliegt, dann könnte es doch sinnvoll sein, wenn in der familiären und der institutionellen Erziehung im Kindergarten und der Schule Konzepte entwickelt würden, deren Hauptziel in der Stärkung des Selbstbewusstseins der Kinder und in der Ausbildung sozialer Fähigkeiten läge.
Die Tat von Erfurt ist noch so dicht und die Suche nach Erklärungen dafür ist so intensiv, dass täglich in den großen Zeitungen neue Meldungen über den wahrscheinlichen Tathergang und erste Versuche des Verstehens zu finden sind. Dazu gehört der heute in der Frankfurter Rundschau (11.05.02) veröffentlichte Bericht von Götz Eisenberg „Die menschlichen ‚Ungeheuer’ entspringen unserer Normalität.“ (Der Text ist noch bis Mitte Juni 2002 unter der Adresse www.fr-aktuell.de/start/doku abrufbar.)
Der Gefängnispsychologe weist ausdrücklich darauf hin, dass seine Ausführungen der Versuch eines Verstehens seien. Es scheine nach bisherigem Kenntnisstand so, dass es im Leben des Robert S. keine spektakulären Traumatisierungen gegeben habe. „Der Satz des Vaters, ‚Wir waren bis zu dieser brutalen Wahnsinnstat eine ganz normale Familie’ , belehrt uns darüber, dass auch das ganz ‚normale’ gesellschaftliche Mittelelend Entbehrungen und eine Fülle von Teil-Traumatisierungen bereit halten kann, die Verletzungen im Lebenslauf hinterlassen, die mitunter schlecht oder gar nicht verheilen und irgendwann zur Ursache einer destruktiven Entwicklung werden können.“
Aus vollkommen heiterem familiärem Himmel käme eine solche Tat aber nicht. In vielen Familien gäbe es bloß noch ein Nebeneinander von Einsamkeiten. Viele Eltern wüssten darüber hinaus nicht, was in der Erziehung richtig oder falsch sei. „Verunsichert ziehen sie sich aus dem Feld der Erziehung zurück, suchen ihre Selbstverwirklichung woanders und überlassen die Kinder sich selbst und der endlosen Weite postmoderner Beliebigkeit.“ Häufig sei auch elterliche Zuwendung und Aufmerksamkeit für ihr Kind mit hohen Leistungsansprüchen verfilzt.
Eisenberg geht in seinem Interpretationsversuch auch auf die gesellschaftlichen Umbrüche ein, die Ende 1998 mit der Wende bei vielen Familien zu einer Identitätskrise geführt hätten. „Wie sollen Eltern ihren Kindern Sinn und Orientierung geben, wenn die eigenen Lebensplanungen und Orientierungen schneller verfallen als sie aufgebaut werden können?“, fragt er.
So sei es auch zu erklären, dass Massen von Jugendlichen in den virtuellen Traumwelten, die mit fragwürdigen Produkten westlicher Kulturindustrie angereichert seien, strandeten. Andere Jugendliche würden sich in Gruppen organisieren und ihren Hass auf Fremde und Außenseiter richten, diese belästigen und totschlagen. Dies seien Erscheinungsformen, die deutlich machten, dass es in unserer gesellschaftlichen Situation keine harmlose Normalität mehr gebe.
Man müsse mehr von der Lebensgeschichte des Täters wissen, um zu Erkenntnissen über dessen Motiv zu gelangen. Vor dem Hintergrund des Wenigen, das bekannt geworden sei, lasse sich möglicherweise das Muster ableiten, dass der aktuellen Kränkung (verpasste Chance, das Abitur zu machen) eine viel tiefere Kränkung zugrunde liege. „Es müssen sich Kränkungen aus der Frühgeschichte des Lebens wie mächtige Verstärker an die aktuelle Zurückweisung angeschlossen haben. Der Schulverweis (...) muss einen tiefen Fundus an Selbstzweifeln wachgerufen haben, der sich bildet, wenn es in der frühen Kindheit an ausreichender Spiegelung und Anerkennung fehlt.“ Bei einem Menschen mit einem schwach ausgebildeten Selbstwertgefühls, könnten gerade in der Pubertät Zurückweisungen zum „Auslöser für einen narzisstischen Supergau“ werden. In der Regel finden Jugendliche im Verlauf ihrer Pubertät zu einer angemessenen Realitätseinschätzung. Gelingt dieser Prozess nicht, dann kann es zu einer Regression im Verhalten kommen. Jugendliche ziehen sich dann in ihre Traumwelten zurück. Die Helden moderner Computerspiele können ihnen möglicherweise helfen, kleinere Beschädigen zu überspielen. „In unserem Fall aber scheint die im inneren gesteuerte narzisstische Wut zu groß, als dass sie sich auf diese Weise entspannen könnte. Sie büßt jede Sublimierungsfähigkeit ein und drängt Robert S. sukzessive über den Bereich des Virtuellen hinaus zur Verwirklichung seiner Schreckensfantasien.“
Auch Eisenberg stellt fest, dass nach bisherige Erkenntnissen die Beziehung zu den Eltern und zum Bruder abgerissen waren. Sie ahnten nicht, was sich im Inneren von Robert zu einer Katastrophe zusammenbraute.
Und dann tritt Robert S. aus seiner virtuellen Welt heraus ... den Rest kennen wir.
Bei der Frage nach Konsequenzen nach dem Massaker von Erfurt muss man vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis ganz deutlich die Phase früher Erziehung in den Mittelpunkt der Erörterungen stellen.
Wir leben in einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen vielen Eltern und ihren Kindern schwierig geworden sind. Gemeint sind Beziehungen, in denen Kinder keine ausreichende emotionale Sicherheit erfahren und nicht genügend Anregungen für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit erhalten. Nach neueren Untersuchungen der Bindungsforschung trifft dies bei 40 bis 50 % der Kinder zu (Brisch, 1999; Dornes, 2000, Gebauer/Hüther, 2001). Oft mangelt es an den erforderlichen Rahmenbedingungen, an emotionaler Zuwendung, an vielfältigen Anregungen und an einer angemessenen Grenzsetzung.
Auf der Suche nach Geborgenheit finden viele Kinder oft nicht den richtigen Weg. Die unzureichende, fehlende oder gestörte emotionale Bindung an eine nahe Bezugsperson entpuppt sich mehr und mehr als Ursache für viele Lern- und Verhaltensprobleme. Emotionale Achtsamkeit beginnt spätestens mit der Geburt eines Kindes. Wir müssen noch intensiver auf die Bedeutung früher Bindungen und emotional tragender Beziehungen hinweisen.
Vor genau 12 Jahren stellten sich meine Kolleginnen und ich aufgrund unserer Alltagsbeobachtungen die Frage: “Was ist bloß mit den Kindern los?“ (Gebauer, u.a., 1991) Die damals 6 jährigen Schülerinnen und Schüler sind heute 18 Jahre alt.
Emotionale Stabilisierung
Die deutlichen Veränderungen der Verhaltensweisen unserer Schüler und Schülerinnen, die wir zu Beginn der neunziger Jahre feststellten, haben in unserer Schule zu einer intensiven Auseinandersetzung und zu einer Erweiterung unserer pädagogischen Konzeption geführt. Es waren die gewalttätigen Auseinandersetzungen unter unseren Schülerinnen und Schülern, die uns zu schaffen machten. Nach der Analyse von vielen Gewaltsituationen, wie sie in der Schule auftreten, konnten wir feststellen, das es in der Mehrzahl aller Fälle um den untauglichen Versuch geht, über Gewaltanwendung und Demütigung eine emotionale Stabilisierung zu erreichen. Das Muster kann man sich so vorstellen: Wenn ich einen anderen Menschen schlage, dann kann ich mich für eine Weile groß und mächtig fühlen. Lange hält dieses Gefühl nicht an. Dann muss erneut gedemütigt und geschlagen werden.
Diese gravierenden und alarmierende Probleme treten schon in einem sehr jungen Alter auf. Die Chancen einer positiven Beeinflussung sind bekanntermaßen in diesem Alter sehr hoch. Hier müsste demnach mit der Förderung eingesetzt werden. Dieser Aspekt ist gegenwärtig nicht Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Man sucht vielmehr Lösungen in äußeren Maßnahmen. Eine der wichtigsten Lehren aus dem Verbrechen von Erfurt müsst sein, dass wir uns intensiv um die Fundamente der Bildung und Erziehung kümmern müssen. Es bedeutet weiter, dass der emotionale Aspekt eine weit größere Bedeutung hat als bisher angenommen wurde. Damit wird der Blick frei für die dringend erforderliche Innovation in der Familienpolitik für die große Bedeutung der Arbeit im Kindergarten und in den Grundschulen. Schon im Zusammenhang mit den Ergebnissen der PISA - Studie hat der
Bundespräsident auf diese Bereiche hingewiesen.
Sichere Bindungen
Ohne sichere Bindungen können sich Kinder nicht zu eigenständigen, sozial kompetenten und verantwortlichen Persönlichkeiten entwickeln. Nicht nur die Säuglingsforschung gibt uns wichtige Hinweise, auch die Ergebnisse der Bindungsforschung zeigen, dass ein Kind von seiner Geburt an, die Bedeutung der Gesten und Handlungsweisen von erwachsenen Personen emotional erfasst. Es nimmt die Vorgänge immer in einem emotionalen Bedeutungszusammenhang war. Dabei spielen Erfahrungen von Geborgenheit und Schutzlosigkeit eine wichtige Rolle. Es nimmt wahr und bildet in der Resonanz zur Mutter elementare Strukturen seines Selbst- und Weltgefühles aus. Die Art, wie es Gehalten und geschützt wird oder wie es vernachlässigt oder fallengelassen wird, macht sein subjektives Grunderleben aus.
Nur wenn Kinder die Grunderfahrungen von emotionaler Geborgenheit und eigener Kompetenz machen konnte, sind sie später in der Lage, eine eigene Vorstellung von sich selbst zu entwickeln.
Achtsamkeit beginnt bei den Babys und den kleinen Kindern. Sie bleibt als Aufgabe für die Arbeit im Kindergarten und in der Grundschule bestehen. Wenn sich Politiker mit der gleichen Intensität, mit der sie heute eine Verschärfung der Waffengesetze und eine Kontrolle von Gewaltvideos fordern, für eine angemessene Erziehung einsetzten, dann müssten sie sich mit einer deutlichen Verbesserung der Rahmenbedingungen beschäftigen. Hier sind Wort wohlfeil - es geht um Geld. Jedenfalls soweit es ihren Part betrifft.
Dreispurpädagogik als Konzept
Wie können Lehrerkollegium konstruktiv mit dieser Situation umgehen?
Vor 12 Jahren haben wir ein Schulkonzept entwickelt, in dem neben der fachorientierten Lernspur immer auch die Beziehungs- und die Selbst-Entwicklungs-Spur eines Kindes Beachtung finden (Dreispurpädagogik).
Persönlichkeitsentwicklung, steht neben der Förderung sozialer Fähigkeit und dem Lernen in den einzelnen Fächern. Sie zeichnet sich weiter durch die Aspekte Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit und Handlungsfähigkeit aus.
Bedeutsamkeit meint, dass alle Verhaltensweisen eines Menschen - auch dann, wenn uns diese nicht passen - in seiner "Selbstkonstruktion" eine Bedeutung haben. Kinder senden vielfältige Signale, mit denen sie uns auf Probleme hinweisen wollen. Voraussetzung für das Erkennen dieser Zusammenhänge ist ein Wissen, das sich Lehrer und Lehrerinnen zusätzlich zu ihrem bisherigen Studium aneignen müssen. Fundgruben zur Wissenserweiterung liegen vor allem in den Nachbarwissenschaften der Psychologie, Psychoanalyse, Psychotherapie, Säuglings- , Bindungs- und Hirnforschung.
Verstehbarkeit meint, dass sich Lehrer und Lehrerinnen in der Interpretation bestimmter Schülerverhaltensweisen üben müssen. Sie sollten auch lernen, die emotionale Dynamik, die in einer Klasse herrscht, zu verstehen. Eine wichtige Grundlage für die konstruktive Bearbeitung von belastenden Situationen ist eine hinreichende Interpretationskompetenz. Das Bemühen von Lehrerinnen und Lehrern bei der Lösung von Konflikten ist oft deswegen so erfolglos, weil eine falsche oder unzureichende Interpretation des Gesamtgeschehens vorliegt.
Handlungsfähigkeit: Bei Fortbildungsveranstaltungen sagen immer wieder Kolleginnen und Kollegen, dass sie sich angesichts permanenter Störungen durch Schüler und durch Gewaltsituationen hilflos und ohnmächtig fühlen. Damit ist die emotionale Komponente im Bildungsprozess angesprochen. Über 9O % der Befragten geben an, dass sie mit den Verhaltensweisen vieler Kinder nicht mehr zurecht kommen. Diese Einschätzung wird auch durch unterschiedliche wissenschaftliche Untersuchungen belegt. Nun ist eine zusätzliche Dimension hinzugekommen: „Die Angst der Lehrer“ (vgl. Fokus, Nr. 19, 2002).
Emotionale Kompetenz schützt vor Gewalttätigkeiten
Voraussetzung für die Arbeit nach dem Konzept der Dreispurpädagogik ist neben der Kompetenz in inhaltlichen und methodischen Fragen eine grundlegende emotionale Kompetenz.
So haben Klärungsdialoge im Anschluss an Konflikte einen gleichrangigen Platz neben anderen Unterrichtsereignissen. Sie finden parallel dazu statt (Gebauer, 1996).
Dieses Verfahren setzt eine flexible Unterrichtsorganisation voraus, bei der Schüler und Schülerinnen mit selbständigen Arbeitsformen vertraut sind. Gerade diese Klärungsdialoge führen über den Aufbau einer tragenden Beziehung zu einer emotionalen Sicherheit. Wenn bei der Konfliktklärung auch die emotionalen Anteile Beachtung finden, dann haben die betroffenen Kinder nach erfolgreicher Klärung ein Gefühl von Erleichterung. Die Hilfe, die sie erfahren haben, führt zu Dankbarkeit gegenüber der helfenden Person. Dankbarkeit ist die Grundlage für Vertrauen. Dieses ist wiederum elementarer Bestandteil einer emotional tragenden Beziehung. Die Erweiterung der Konzeption hat in seinem Kern den Versuch, in den Situationen des schulischen Alltags Kindern positive Erfahrungen im Umgang mit Unsicherheitssituationen zu ermöglichen. Das setzt bei den Lehrkräften selbst eine emotionale Kompetenz voraus. Gelingt diese Arbeit, dann liegt hier für Lehrkräfte und auch für ihre Schülerinnen und Schüler der größte Schutz vor Gewalttaten unterschiedlichster Art.
Wie könnten Lösungen aussehen?
Umgehend müsste auf allen Ebenen beachtet werden, dass Erziehung und Bildung im frühesten Kindesalter beginnen. Schaffung von entsprechenden Rahmenbedingungen müssten Vorrang vor andern bildungspolitischen Maßnahmen haben.
Die Arbeit der Erzieherinnen in Kindergärten müsste größere Anerkennung im öffentlichen Bewusstsein finden. Gleichzeitig müsste die Aus- und Fortbildung für alle Personen, die mit kleinen Kindern arbeiten, entscheidend verbessert werden. Das betrifft selbstverständlich auch für die Rahmenbedingungen zu, unter denen Bildung und Erziehung stattfinden. Für eine gelingende Erziehung ist es wichtig, dass vor allem in den Familien, Kindergärten und Grundschule die Voraussetzungen für eine umfassende motorische, emotionale, soziale und kognitive Förderung geschaffen werden.
Mit Trainingsprogrammen herkömmlicher Art hat diese Aufgabe nichts zu tun. Für eine Elternschule bietet es sich an, in Anlehnung an die guten Erfahrungen mit geburtsvorbereitenden Gruppen, Angebote für junge Eltern zu machen, in denen die Bedeutung der Erziehung in der frühen Kindheit für eine optimale Entwicklung vermittelt wird. Hier ist der Deutsch Kinderschutzbund mit seinem Programm „Starke Eltern - starke Kinder“ besonders zu erwähnen.
Eine große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den Familienbildungsstätten zu. Erfahrungsgemäß treffen sich hier vor allem junge Mütter mit ihren Kindern um Erfahrungen auszutauschen und Anregungen zu erhalten.
In allen Schulformen wäre darauf zu achten, dass Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern nicht nur inhaltliche Anregungen geben, sondern ihnen auch eine emotional tragende Beziehung anbieten. Damit sind in der Gegenwart viele Lehrerinnen und Lehrer überfordert. Eine Schulreform, die etwas auf sich hält, müsste hier ansetzen. Denn das Leid der Kinder spiegelt sich auch in der Hilflosigkeit und Überforderung ihrer Lehrerinnen und Lehrer.
Ergebnisse der Bindungsforschung besagen, dass in der frühen Kindheit gelegte sichere Bindungen - vorausgesetzt, es treten keine Schicksalsschläge ein - sich zu 100 % mindestens bis zu einem Alter von 15 Jahren halten. Einige Untersuchungen sprechen sogar von noch längeren Zeiträumen. Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass sich unsicheren Bindungen in sichere umwandeln können. Dabei spielen die Erfahrungsangebote im Kindergarten und der Grundschule eine entscheidende Rolle. Eltern müssen sich in kritischen Situationen, in denen der Beziehungsfaden zu ihren Kindern abgebrochen ist, auf den Weg machen und sich Rat holen, um wieder eine tragende Beziehung herstellen zu können. Dabei brauchen sie Unterstützung. Hier wird sichtbar, dass Erziehung eine sehr anstrengende und auch belastende Arbeit sein kann. Für einen positiven Umgang mit belastenden Beziehungssituation ist es entscheidend, ob es den Erwachsenen (Eltern, Erzieherinnen und Lehrern) gelingt, eine emotional tragende Beziehung zu ihren Kindern und Schülern aufzubauen.
Alternative Handlungsmöglichkeiten anbieten
Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Erfurt berichtet der Spiegel (Ausgabe Nr. 18, 2002) von einer jungen Frau, die sich gerade zu dem Zeitpunkt, als Robert Steinhäuser 12 Lehrer, eine Sekretärin, einen Polizisten, eine Schülerin, einen Schüler und sich selbst erschoss, vor Gericht für eine Brandstiftung verantworten musste. Hunderte von Menschen brachte sie in Lebensgefahr, nur weil sie nicht zum Abitur zugelassen wurde, heißt es in der Anklageschrift. Es werden weitere Taten anderer junger Menschen angeführt und es wird gefragt: „Warum tut ein junger Mensch, nicht ein Bösewicht oder ein seelisch Kranker, so etwas? In welcher Umwelt müssen diese jungen Täter gelebt haben, dass sie irgendwann keinen Weg mehr aus ihren Verstrickungen finden?“ Es wird weiter gefragt, warum junge Menschen so große Angst davor haben, mit ihren Eltern über ihre Probleme zu sprechen. Die Brandstifterin Katrin G. sei ein hübsches Mädchen mit einem Puppengesicht. Sie hatte jüngere Geschwister und musste ihre Mutter, die von zwei Männern verlassen worden war, unterstützen. Mit 17 Jahren wurde sie schwanger, schaffte das Abitur nicht. Nun, als sie den zweiten Versuch machen will, fehlen ihr zwei Punkte an der Zulassung. Sie zündet ihre Schule an. Offenbar hat sie keinen andern Ausweg gesehen, sich aus ihren Problemen zu befreien.
Beim Lesen dieses Berichtes fallen mir 4 Schülerinnen eines dritten Schuljahres ein, die vor etwa sieben Jahren zweimal den Feuermelder unserer Schule betätigten und in einem Nachbarhaus Scheiben einwarfen. So sendeten sie Signale und wir erfuhren über die Gespräche mit den Mädchen, ihren Müttern und einem Vater, dass sie eigentlich die Schule anzünden wollten. Ich konnte gar nicht schnell genug zu meinem eigenen Buch greifen, um nachzulesen, wie wir damals die Situation geklärt hatten (vgl. Gebauer: „Ich hab sie ja nur leicht gewürgt.“ Mit Schulkindern über Gewalt reden. S. 164 ff).
Die Morde von Erfurt haben u.a. bei mir dazu geführt, mein eigenes pädagogisches Handeln zu überprüfen. Ich bin heute sicherer als je zuvor, dass Gespräche über Konflikte und Gewaltsituationen von größter Bedeutung für eine gelingende Entwicklung sind. Wir müssen unseren Kindern und Schülern immer wieder die Möglichkeit eröffnen, auch und gerade nach gewalttätigen Auseinandersetzungen über die Ereignisse zu sprechen. Wir müssen Ihnen helfen, Wörter und Sätze für ihr emotionales Erleben zu finden. Wir müssen versuchen, ihnen zugewandt zu bleiben, auch wenn wir ihr Tun auf den ersten Blick nicht verstehen.
Perspektiven
Es gibt nicht den Weg, der aus den skizzierten Dilemmata herausführt. Trampelpfade wären von verschiedensten Stellen, Institutionen und Personen anzulegen. Es ist auch nicht mit einzelnen Schritten getan. Man muss schon eine begründete Konzeption entwickeln. Ich will skizzieren, welche Vorgehensweisen meine Kolleginnen und ich gewählt haben (Gebauer, 1996, 1997,2000 b). Einzelne Puzzlesteine sind:
Erfolgreiche, methodenorientierte, kontinuierliche Teamarbeit.
Wahrnehmen und Benennen von Problemen, Analysieren und Interpretieren unter Berücksichtung von Erkenntnissen aus Nachbarwissenschaften und Nachbarbereichen (Hirnforschung, Psychoanalyse, Säuglings- und Bindungsforschung, Entwicklungs- und Systemische Psychologie).
Stärkung der individuellen Kompetenz als Lehrer und der Arbeitskompetenz der Gruppenmitglieder.
Gegenseitige Offenheit, Hospitationen.
Einbeziehung der emotionalen Komponente in den Arbeits- und Reflexionsprozess.
Klärung sogenannter Wahrheitsfragen (Relativierung von Absolutheitsansprüchen) und Zulassen vielfältiger Interpretationsmöglichkeiten als Grundlage für Handlungsversuche im pädagogischen Feld.
Überlegungen zur Qualitätsverbesserung des Unterrichts.
Vergewisserungsversuche über das Erreichen formulierter Ziele
Entwicklung einer Schulkonzeption, die getragen ist von den Vorstellungen, dass für erfolgreiche Bildungsprozesse Geborgenheit, Anregungen, Grenzsetzungen von entscheidender Bedeutung sind. Im Mittelpunkt der Arbeit sollte die Schaffung emotionaler Sicherheit für alle in der Schule tätigen Personen stehen.
Auseinandersetzung mit den bildungspolitischen Entwicklungen.
Professionalität im Lehrerberuf
Es besteht die Chance, über dies Arbeitsweise gleichzeitig ein kompetentes Lehrerverhalten zu entwickeln. Abschließend möchte ich einige Aspekte skizzieren.
Kompetentes Verhalten zeigen Lehrerinnen und Lehrer, die ihren Schülerinnen und Schülern eine emotional tragende Beziehung anbieten. Sie ziehen den Beziehungsfaden in ihre Überlegungen mit ein und reflektieren ihre Arbeit nicht nur unter didaktisch-methodischen Gesichtspunkten. Beziehungen sind konstruktiv, wenn sie eine zugewandte emotionale Komponente haben. Voraussetzung dafür ist das Wahrnehmen eigener Gefühle im Wechselspiel mit denen anderer Menschen.
Kompetente Lehrerinnen und Lehrer verfügen über Deutungswissen und Interpretationsverfahren. So können sie individuelle und gruppendynamische Verhaltensweisen ihrer Schülerinnen und Schüler verstehen und angemessen handeln.
Sie können ihre eigenen Kräfte richtig einschätzen und sich somit auch vor Überforderung schützen. Sie verfügen mindestens über Strategien eines erfolgreichen Umgangs mit Stresssituationen.
Ihre Kompetenz zeigen Lehrerinnen und Lehrer nicht nur in der Umsetzung des Bildungsauftrages der Schule. Sie können sich auch gegenüber anderen Arbeitsfeldern (Familiäre Erziehung, Beratungsstellen, Sozialdienst usw.) abgrenzen. Souverän verhalten sie sich, wenn Sie Aufgabenzuschreibungen nicht kritiklos übernehmen, sondern auch zurückweisen und die Institutionen benennen, die für diesen Aufgabenbereich zuständig sind. So sind Lehrerinnen und Lehrer zum Beispiel nicht zuständig für die Fortbildung von Eltern in Erziehungsfragen.
Kompetenz von Lehrern und Lehrerinnen zeigt sich auch darin, dass sie sich erfolgreich zur Wehr setzen gegenüber ungerechtfertigten Angriffen von Eltern, Journalisten und Politikern. Versagen in Erziehungs- und Bildungsaufgaben muss dort bearbeitet werden, wo es entsteht und darf nicht auf jeweils andere projiziert werden.
Kompetentes Lehrerverhalten zeigt sich vor allem in der Wahrnehmung und Analyse von Verhaltensweisen, die aus frühkindlichen Bindungsmuster resultieren. So ist es möglich, dass sich Lehrkräfte nicht in die Inszenierungen ihrer Schüler und Schülerinnen verstricken lassen. Sie gehen konstruktiv mit Verhaltensweisen um, die aus unsicheren Bindungsmustern entstehen. So eröffnen sie ihren Schülerinnen und Schülern eine Chance, emotionale Sicherheit zu erwerben.
Sie regen das Lern- und Sozialverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler nicht nur an, sie sind auch Unterstützer und Berater.
Kompetente Lehrkräfte wissen, dass sie nicht nur Vermittler von Lerninhalten sind, sondern dass ihr Verhalten in den unterschiedlichsten Situationen Vorbildcharakter hat. Damit werden sie selbst in ihrem emotionalen, sozialen und kognitiven Habitus zum Inhalt von Lernprozessen.
Kompetente Lehrkräfte befinden sich in einem lebenslangen Lernprozess. Sie praktizieren Teamarbeit. Sie wissen und beherzigen, dass ein Gelingen ihrer komplexen Arbeit nur möglich ist, wenn sie sich den Zugang zu ihren Gefühlen offen halten. Sie wissen und beachten, dass emotionale Kompetenz das Fundament erfolgreicher Lernprozesse ist.
Wenn von Bildungspolitikern eine bessere Diagnostik, Methodik, interne und externe Evaluation gefordert werden, wenn die Ausstattung der Schulen mit Computern vorangetrieben wird, dann sind das wichtige Elemente. Wenn allerdings der Weg zu einer verschärften Selektion eingeschlagen und dabei der Blick für die Bedeutung einer emotionalen Erziehung vernachlässigt wird, dann stellt sich die Frage nach der Orientierungskompetenz einer ganzen Gesellschaft.
So könnte das schreckliche Ereignis von Erfurt mit dazu beitragen, dass sich langsam auch das bundesrepublikanische Bildungswesen so verändert, dass es sich auch den Blick für Außenseiter bewahrt.
Die Schule muss dabei nicht auf Leistungsforderung verzichten. „Ohne Leistung, ohne Leistungsbereitschaft wäre jede Schule wirklichkeitsfremd. Immer muss aber klar sein, dass die Beurteilung einer Leistung kein Urteil über eine Person ist. Kein Schüler, kein Mensch ist ein hoffnungsloser Fall (...)“ sagte Johannes Rau in seiner Trauerrede in Erfurt.
Ich wünsche mir, dass verantwortliche Politiker die Energie aufbringen, die erforderlich ist, damit diese grundlegenden und dringenden Reformen im deutschen Schulwesen begonnen und umgesetzt werden. Für die Schaffung der Rahmenbedingungen dürfen sie laut sein und heftig miteinander streiten, aber die Umsetzung dieser Konzeption erfordert den vertrauensvollen und eher leisen Umgang miteinander. Auf diese Weise würden alle, die sich daran beteiligen, den Opfern von Erfurt eine große Ehre erweisen.
Literatur:
Baumert, J. u.a.: Pisa 2000, Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Leske + Budrich, Opladen 2001
Brisch, K.H.: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999
Dornes, M.: Die emotionale Welt des Kindes, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a./M. 2000
Eisenberg, G.: Die menschlichen „Ungeheuer“ entspringen unserer Normalität, in: Frankfurter Rundschau, 11.05.02
Fokus, Nr. 19, 6.5.02, Die angst der Lehrer
Gebauer, K. u.a.: Was ist bloß mit den Kindern los? In: Grundschulzeitschrift, Heft 11, 1991
Gebauer, K.: „Ich hab sie ja nur leicht gewürgt.“ Mit Schulkindern über Gewalt reden, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1996
Gebauer, K.: Turbulenzen im Klassenzimmer. Emotionales Lernen in der Schule, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1997
Gebauer, K.: Wenn Kinder auffällig werden - Perspektiven für ratlose Eltern, Verlag Walter, Düsseldorf 2OOO a
Gebauer, K.: Stress bei Lehrern. Probleme im Schulalltag bewältige. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2OOO b
Gebauer K. / Hüther, G. (Hrsg.): Kinder brauchen Wurzeln, Verlag Walter, Düsseldorf 2001
Hüther, G.: Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997
Hüther, G.: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2001
Hüther, G. / Bonney, H.: Neues vom Zappelphilipp. Walter Verlag Düsseldorf, 2002
Ledoux, J.: Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. Hanser Verlag, 1998
Spiegel, Nr. 18, 29.04.02 und Nr. 19, 6.05.02
Karl Gebauer ist Rektor der Leineberg-Grundschule in Göttingen. Zusammen mit Prof. G. Hüther organisiert und leitet er die jährlich stattfindenden “Göttinger Erziehungskongresse“. Er ist Mitinitiator des Netzwerkes: www.win-future.de
Arbeitsschwerpunkte: Die Bedeutung der Emotionalität in Erziehungsprozessen, Gewalt in der Schule,
Konstruktiver Umgang mit Stresssituationen, Chancen der Teamarbeit, Sozialisationsprozesse in der Grundschule, Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter.
Methoden: Gruppendynamische Arbeitsformen unter Berücksichtigung wichtiger Ergebnisse und Erfahrungen aus den Bereichen der Hirnforschung, Psychoanalyse, Psychotherapie und der systemischen Therapie.
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Re: wir müssen einander achten (Punkte: 1) von herba auf Sunday, 22. September (Userinfo | Artikel schicken) | den ganzen artikel hab ich nicht gelesen, doch halte ich es bereits schon bei dem wort achtung für einen widerspruch, wenn ich eine massenemail vom bundespräsidialamt erhalte, wenn ich mich direkt an den bundespräsidenten wende, um meiner aufgeregtheit wegen des vorfalls in erfurt ausdruck zu verleihen. das kann ein einfacher programmierer leisten, ohne jemals den inhalt meiner mail gelesen zu haben. und so geht es kindern auch, die aufgeregt sind (das wort habe ich von rolf robischon übernommen), die merken, ob man sie als einzelpersönlichkeit wahrgenommen hat oder ob man sie über einen kamm schert. |
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