Dr-Stegner schreibt: "Hyperkinetische Störung und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom
Wir beobachten in der BRD eine starke Zunahme dieser Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen. Zunehmend häufig werden aber auch bei Erwachsenen diese Diagnosen gestellt. Dabei werden diese Begriffe so allgemein verwendet, daß sie zu einer großen Konfusion und damit häufig zu einer unsachgemäßen Behandlung führen.
Bedenkt man, daß die Verordnung von Methylphenidat (Ritalin) als dem Medikament der Wahl in den letzten 5 Jahren um das 40fache zugenommen hat, dann muß man hier von einer epidemieartigen Zunahme sprechen.
Dies ist ein von mir verfasster Artikel, erschienen in der Badischen Zeitung am 24.5.02.
Hyperkinetische Störung und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom
Wir beobachten in der BRD eine starke Zunahme dieser Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen. Zunehmend häufig werden aber auch bei Erwachsenen diese Diagnosen gestellt. Dabei werden diese Begriffe so allgemein verwendet, daß sie zu einer großen Konfusion und damit häufig zu einer unsachgemäßen Behandlung führen.
Bedenkt man, daß die Verordnung von Methylphenidat (Ritalin) als dem Medikament der Wahl in den letzten 5 Jahren um das 40fache zugenommen hat, dann muß man hier von einer epidemieartigen Zunahme sprechen. Dies läßt an andere Epidemien in der Geschichte der psychosomatischen Erkrankungen, wie etwa die Hysteriewelle des ausgehenden 19.Jhrdts. denken.
Was sind die wesentlichen Faktoren, die berücksichtigt werden müssen ?
1.) Diagnose:
Diese Störungen fanden Eingang in die internationalen Klassifikationen DSM IV und ICD 10 und damit sind sie zu anerkannten Krankheiten geworden. Die Diagnosekriterien betreffen die drei Kernsymptome: Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität. Bereits an dieser Stelle beginnen die Schwierigkeiten, weil diese Symptome die unterschiedlichsten Ursachen haben können. Unser Verständnis ist, daß ein gezeigtes Verhalten grundsätzlich auch einen Sinn für den Betroffenen macht. Es gilt also, dieses Verhalten zu verstehen. Zudem zeigt sich, daß es bei diesen Symptomen ganz generell um eine Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt geht und deshalb darf sich die Diagnostik nicht auf das Individuum beschränken, sondern muß das soziale Umfeld mit einbeziehen.Nach unseren Erfahrungen findet man z.B. bei Familien mit einem betroffenen Kind sehr häufig massive familiäre Konflikte oder schwerwiegende traumatische Ereignisse wie Verlustsituationen. Diese Konflikte bestehen übrigens schon eindeutig vor Auftreten der Symptome. Diese Probleme sind für die Betroffenen sehr bedrohlich und werden deshalb oft nicht bewußt wahrgenommen - sie können also auch nicht direkt benannt werden. Dies erklärt auch, warum in vielen Untersuchungen diese Dimension gar nicht erfaßt wird. Interessanterweise kommt oft auch den Ärzten dieses „nicht hinterfragen“ entgegen. Denn würde man auf solch familiären Konflikte stoßen, dann müßte man ja auch Behandlungsmöglichkeiten für die Familie anbieten und diese komplexe Behandlung übersteigt oft den ambulanten Rahmen und die Möglichkeiten der Ärzte selbst. Es bildet sich also ein stilles Einverständnis zwischen Arzt und Familie mit dem Ergebnis, den Indexpatienten medikamentös zu behandeln.
Die Diagnostik muß sich also auf mehrere Informationsquellen und Verhaltensbeobachtungen in unterschiedlichen Situationen stützen. Entscheidend ist die genaue Untersuchung der psychodynamischen und familiären Hintergründe, die bei solchen Familien besonders schwierig ist. Nach unserer Erfahrung werden diese Diagnosen viel zu häufig gestellt.
2.) Therapie:
Die Therapie beginnt bereits mit der ausführlichen biographischen Anamnese und einem Familiengespräch, wodurch bereits hier das störende Verhalten in einen neuen Kontext gestellt werden kann. Oft wird auch ein massiv abwertendes Verhalten gegenüber solchen Kindern beobachtet und bereits hier kann entgegengewirkt werden, indem auch auf die Stärken und Fähigkeiten des Kindes hingewiesen wird. Abhängig von den Ergebnissen dieses Erstgesprächs muß ein Therapieprogramm entsprechend der individuellen Situation der Familie erstellt werden. Wir haben in der Klinik ein multimodales Therapiekonzept das folgende Bausteine umfaßt: Einzelpsychotherapieangebote, Gruppentherapie oder Paargespräche für die Mütter/Väter sowie Familiengespräche, wobei wir verschiedenen Therapieformen wie systemische, tiefenpsychologische oder verhaltenstherapeutische kombinieren. Für die Kinder – mit oder ohne Bezugsperson - bieten wir Heilpädagogik und Bewegungstherapie an. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Behandlung der Kinder in der Schule, die ja oft besonders konfliktreich erlebt wird und mit vielen Mißerfolgserlebnissen behaftet ist. Ein weiterer Baustein ist die konkrete Anleitung der Eltern im Umgang mit den Kindern in einer speziellen Elterngruppe.
Allgemeine Therapieziele sind
Die negativen Interaktionen in den Familien zu durchbrechen
Die Kinder in ihrer sozialen Kompetenz zu fördern
Das oft sehr schlechte Selbstwertgefühl dieser Kinder durch positive Erlebnisse zu steigern
Ein Verständnis für die Hintergründe des gezeigten Verhaltens zu schaffen und falls schwelende Konflikte vorhanden sind, entsprechende therapeutische Hilfe anzubieten.
Bewährt hat sich ein Vorgehen das sowohl systemische, symptomorientierte, edukative und psychodynamische Ansätze verbindet.
Positiv möchte ich anmerken, daß sich im südbadischen Raum mehrere Schwerpunktpraxen herausgebildet haben, die der komplexen Diagnostik und Therapie solcher Störungsbilder gerecht werden und daß zunehmend kritische Stimmen gegen die leichtfertige Verordnung von Methylphenidat laut werden. Eine medikamentöse Therapie ohne die oben beschriebenen begleitenden therapeutischen Angebote ist abzulehnen.
Priv.Doz. Dr.med. Hendrik Stegner
Diplompsychologe
Facharzt für Psychotherapeutische Medizin
Facharzt für Kinderheilkunde
Chefarzt Klinik für Familienrehabilitation
Glotterbad
E-mail: [email protected]
www.kur.org
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